Kettenauffahrunfall – Anwendung des Anscheinsbeweises auf den letzten in der Kette der Unfallfahrzeuge auffahrenden Fahrer?

Kettenauffahrunfall – Anwendung des Anscheinsbeweises auf den letzten in der Kette der Unfallfahrzeuge auffahrenden Fahrer?

Bei einem Kettenauffahrunfall kommt ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das ihm vorausfahrende Fahrzeug des Geschädigten rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist und nicht durch einen Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug den Bremsweg des ihm folgenden Fahrzeugs verkürzt hat.

Darauf hat das Oberlandesgericht (OLG) Hamm mit Urteil vom 06.02.2014 – 6 U 101/13 – hingewiesen.

Danach ist der in der Regel gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis für sein Verschulden bei Kettenauffahrunfällen nicht auf die innerhalb der Kette befindlichen Kraftfahrer anwendbar, weil häufig nicht feststellbar ist, wer auf wen aufgefahren ist und wer wen auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben hat (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 24.3.2010 – 13 U 125/09 –).

Das gilt insbesondere für die Verursachung des Frontschadens am Fahrzeug des Klägers, wenn zwischen den Parteien streitig ist und weder durch Sachverständigengutachten noch durch Zeugenaussagen geklärt werden kann, ob der Kläger vor dem Aufprall der Beklagten auf das ihm vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren ist oder ob er vorher hat rechtzeitig bremsen können und sodann vom Fahrzeug der Beklagten auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben worden ist (vgl. dazu auch: OLG Brandenburg, Urteil vom 1.7.2010 – 12 U 15/10 –).

Zwar wird in der Rechtsprechung überwiegend vertreten, dass der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis für ein schuldhaftes Verhalten jedenfalls auf den letzten in der Kette der Unfallfahrzeuge auffahrenden Fahrer anwendbar sei, soweit es um die Verursachung des Heckschadens gehe (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 24.3.2010 – 13 U 125/09 –; OLG Düsseldorf, Urteil vom 12.6.2006 – 1 U 206/05 –).
Diese Auffassung wird damit begründet, dass bei ihm regelmäßig feststehe, dass er nicht aufgeschoben worden sei, mit der Folge, dass es sich für ihn um einen gewöhnlichen Auffahrunfall handele.
Soweit er behaupte, der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs habe den Bremsweg unerwartet verkürzt, indem er selbst auf den Vordermann aufgefahren sei, obliege es ihm, die sich aus dem Beweis des ersten Anscheins begründete richterliche Überzeugung zu erschüttern.
Bei dieser Argumentation wird jedoch übersehen, dass der Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen voraussetzt, dass es sich um einen typischen Geschehensablauf handelt, bei dem sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist.
Dabei ist grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil der Anscheinsbeweis es erlaubt, aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache, bzw. das Verschulden festgestellt werden muss.
Deshalb reicht alleine der Auffahrunfall als „Kerngeschehen“ als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen (vgl. Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 13.12.2011 – VI ZR 177/10 –).

Unter Anwendung dieser Grundsätze kommt ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist.

Kann eine solche Feststellung nicht getroffen werden, fehlt es an einem typischen Geschehensablauf, der ein Verschulden des zuletzt in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmers aufdrängt, weil dann die Möglichkeit besteht, dass der Vorausfahrende für den auffahrenden Verkehrsteilnehmer unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges „ruckartig“ zum Stehen gekommen ist, indem er seinerseits auf seinen Vordermann aufgefahren ist und deswegen den Anhalteweg für den ihm nachfolgenden Verkehrsteilnehmer unzumutbar verkürzt hat.

Dieser Fall ist vergleichbar mit dem Auffahren auf ein anderes Kraftfahrzeug auf der Autobahn, wenn nicht feststeht, ob der Vorausfahrende vor dem Zusammenstoß einen Spurwechsel vorgenommen hat oder nicht. Auch in dem Fall des nicht feststellbaren Spurwechsels auf der Autobahn hat der Bundesgerichtshof die Annahme eines Anscheinsbeweises zugunsten des Geschädigten verneint (vgl. BGH, Urteil vom 13.12.2011 – VI ZR 177/10 –).

 


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