Wenn einziger Zeuge eines Verkehrsunfalls der Beifahrer des einen Unfallbeteiligten ist – Anforderung an die Würdigung dieser Aussage.

Wenn einziger Zeuge eines Verkehrsunfalls der Beifahrer des einen Unfallbeteiligten ist – Anforderung an die Würdigung dieser Aussage.

Ob durch die Aussage eines einzelnen Zeugen, der dazu noch Beifahrer ist, die Überzeugung des Richters von der Richtigkeit seiner Aussage erreicht wird, ist grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls.
Aufgabe des Beweises ist, die größtmögliche Übereinstimmung zwischen dem vom Gericht beurteilten und dem wahren Sachverhalt zu gewährleisten. Nach § 286 Zivilprozessordnung (ZPO) muss das Gericht eine persönliche Gewissheit davon gewinnen, dass das zu beweisende Ereignis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, die vernünftige Zweifel ausschließt, so geschehen ist.
Auch wenn sich ein Zeuge ganz sicher ist, Fehler in der Wahrnehmung des Zeugen bei der Vernehmung nicht erkennbar sind, die Aussage auch sonst keine Anhaltspunkte zeigt, die für eine Beeinflussung des Zeugen durch andere Faktoren sprechen könnten und der Zeuge offensichtlich auch einen glaubwürdigen Eindruck gemacht hat, reicht dies allein nicht aus, um die Voraussetzungen zu erfüllen, die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung für die Würdigung von Zeugenaussagen gefordert werden.
Wie die Wahrnehmungspsychologie durch zahlreiche Experimente herausgefunden hat, gibt es von der Wahrnehmung eines Sachverhalts bis hin zur Wiedergabe der Erinnerung viele Fehlermöglichkeiten, die zu einer Veränderung des erinnerten Geschehens führen und in weiten Teilen kognitiv nicht beeinflussbar sind.
Dies beginnt bei einfachen Wahrnehmungsfehlern, die daraus resultieren, dass jeder Mensch nur einen Bruchteil von dem wahrnimmt, was an Informationen auf ihn einströmt, und die Auswahl der wahrzunehmenden Signale völlig unbewusst nach individuellen Kriterien erfolgt.
Im Langzeitgedächtnis wird wiederum nur ein geringer Prozentsatz dessen gespeichert und bleibt während der Erinnerung auch nicht unverändert.
Spätere Ereignisse oder auch Assoziationen und Neubewertungen haben starken Einfluss auf den erinnerten Sachverhalt, ohne dass dies durch die Person bemerkt wird.
Gerade bei schnell ablaufenden Vorgängen, deren Grundmuster, wie beim Verkehrsunfall bestimmte Fahrsituationen, häufig erlebt werden, gibt es zahlreiche Fehlerquellen, die der Vernehmungsperson regelmäßig nicht bewusst sind. Dies haben auch Experimente mit Richtern bewiesen (Kirchhoff MDR 2001, 661).
Deshalb kann auch bei noch so wahrheitsliebenden und objektiven Zeugen – wie z. B. auch Polizeibeamten – nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass der bekundete Sachverhalt mit der Realität übereinstimmt. Auch ist die Sicherheit der Aussage kein ausreichender Indikator dafür, dass ihr Inhalt objektiv richtig ist. Es ist deshalb erforderlich, in erster Linie Anhaltspunkte zu finden, die dafür sprechen, dass die Auskunftsperson die Wahrheit sagt.
Dabei nimmt man zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Diese Annahme überprüft man anhand verschiedener Hypothesen. Ergibt sich, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt.
Dies bedeutet, dass jede Zeugenaussage solange als unzuverlässig gilt, als die Nullhypothese nicht eindeutig widerlegt ist.
Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man bei der Bewertung von Aussagen von einer neutralen Anfangswahrscheinlichkeit für deren Zuverlässigkeit ausgeht und sodann überprüft, ob anhand von Qualitätsmerkmalen, sog. Realkennzeichen oder Realitätskriterien, eine (ausreichend) hohe Wahrscheinlichkeit für die Zuverlässigkeit der Aussage erreicht werden kann.
Als Realitätskriterien gelten beispielsweise der Detailreichtum einer Aussage, die Schilderung von Komplikationen, deliktstypische Einzelheiten, individuelle Prägung, Schilderung von gefühlsmäßigen Reaktionen; psychische Folgewirkungen, Verflechtung der Angaben mit anderen Geschehnissen und das Nichtsteuerungskriterium (inhaltlich und chronologisch nicht geordnete, sprunghafte Wiedergabe; vgl. zu allem die ausführlichen Darstellungen bei BGH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 –).
Nicht verkannt dabei wird, dass es gerade im Bereich des Verkehrsunfalls viele Vorgänge gibt, bei denen eine Zeugenaussage von vornherein wenig inhaltliche Realitätskriterien aufweisen kann, weil der Ablauf sehr schnell ist und häufig auch keine besondere emotionale Beteiligung des Zeugen vorhanden ist.
Auch in diesem Bereich gilt aber das beschriebene Beweismaß des § 286 ZPO, wonach grundsätzlich von der Nullhypothese auszugehen ist und valide Realitätskriterien vorliegen müssen. Andernfalls wäre gerade in diesem Bereich das Risiko einer Beeinflussung durch Wahrnehmungsfehler ganz erheblich.
Dabei muss ein Zeuge in einem solchen Fall nicht bewusst falsch ausgesagt, sondern kann subjektiv die Wahrheit gesagt haben.
Fehlurteile aufgrund unrichtiger Zeugenaussagen sind empirisch erwiesen keine Seltenheit. Um dies zu vermeiden, führt das Fehlen ausreichend vorhandener Realitätskriterien dazu, dass die notwendige richterliche Überzeugung nicht gewonnen werden kann und deshalb der Beweis nicht geführt ist, obwohl sich der Unfall objektiv entsprechend dem bekundeten Vortrag abgespielt haben mag.

Darauf hat das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt a. M. mit Urteil vom 09.10.2012 – 22 U 109/11 – hingewiesen.

 

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