Zum „faktischen Überholverbot“ und dazu, wann einen Überholenden, der nur unter Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit überholen kann im Falle eines Unfalls kein Mitschulden trifft.

Zum „faktischen Überholverbot“ und dazu, wann einen Überholenden, der nur unter Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit überholen kann im Falle eines Unfalls kein Mitschulden trifft.

Wer unter Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit überholt, muss sich im Falle eines Unfalls nur dann einen Verstoß gegen ein sogenanntes „faktisches Überholverbot“ vorhalten lassen,

  • wenn sich der Unfall beim Einhalten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht ereignet hätte.

Außerdem schützt ein durch einen Geschwindigkeitsverstoß begründetes “faktisches Überholverbot“ nur die von einem gesetzlichen Überholverbot geschützten Verkehrsteilnehmer und nicht auch die von einer Parkplatzausfahrt in die Straße Einbiegenden.
 

Das hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 04.02.2014 – 9 U 149/13 – entschieden.

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte der Kläger mit seinem Motorrad im Bereich der Parkplatzein- und -ausfahrt eines an der linken Straßenseite gelegenen Lebensmittelmarktes ein vor ihm mit ca. 50 km/h fahrendes Fahrzeug überholt, wobei er die dort innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritt.
Zu diesem Zeitpunkt bog der Beklagte mit seinem Pkw vom Parkplatz des Lebensmittelmarktes nach rechts auf die Straße und kollidierte mit dem ihm entgegenkommenden, bereits überholenden Motorrad des Klägers.
Der Kläger zog sich Verletzungen an seinen linken Sprunggelenk und seiner rechten Ferse zu, sein Motorrad erlitt einen Totalschaden. Vom Beklagten verlangte er 100%igen Schadensersatz.

Die Klage hatte vollen Erfolg.

Der Unfall war, wie der 9. Zivilsenat des OLG Hamm unter Berücksichtigung des eingeholten unfallanalytischen Sachverständigengutachtens ausführte, für keine der Parteien unabwendbar im Sinne von § 17 Abs. 3 Straßenverkehrsgesetz (StVG), weil unabwendbar ein Ereignis ist, das durch äußerste mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann, abzustellen insoweit auf das Verhalten des sog. „Idealfahrers“ ist und ein solcher Idealfahrer hätte weder – wie der Kläger – unter Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit überholt, noch – wie der Beklagte – trotz Erkennbarkeit des überholenden Kraftrades den Abbiegevorgang fortgesetzt.

Somit hing die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie deren Umfang nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden war.
Da der Beklagte nach Auffassung des 9. Zivilsenat des OLG Hamm für den Unfall allein verantwortlich war, kam der Zivilsenat letztlich zu dem Ergebnis, dass die Betriebsgefahr des klägerischen Motorrades vollständig hinter dem Verschulden des Beklagten zurücktritt.

Gegen den Beklagten stritt vorliegend der Beweis des ersten Anscheins im Hinblick auf einen Verstoß gegen § 10 Straßenverkehrsordnung (StVO).
Bei der Einfahrt vom Parkplatz auf die Straße hatte der Beklagte die Gefährdung des Klägers als Teilnehmer des fließenden Verkehrs gem. § 10 StVO auszuschließen, wobei das Ausfahren erst endet, wenn sich der Einbiegende in zügiger Fahrt in den fließenden Verkehr eingeordnet hat.
Kommt es – wie vorliegend – in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Ausfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, so spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Ausfahrenden.

Dieser gegen den Beklagten sprechende Anscheinsbeweis wurde durch das Ergebnis des eingeholten unfallanalytischen Sachverständigengutachtens nicht entkräftet, sondern bestätigt; denn danach befand sich der PKW des Beklagten im Zeitpunkt der Kollision mit dem Kraftrad des Klägers noch in Schrägstellung. Der Anfahrweg bis zum Kollisionsort betrug ausweislich der Ausführungen des Sachverständigen nämlich nur 6 Meter.
Zudem hätte der Beklagte die Kollision nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen bei sorgfältiger Beobachtung des rechtsseitigen Verkehrs vermeiden können.

Demgegenüber war zu Lasten des Klägers kein Verursachungsbeitrag in die Haftungsabwägung einzustellen.

Zwar war der Kläger schneller als die an der Unfallörtlichkeit zugelassenen 50 km/h gefahren. Dieser Geschwindigkeitsverstoß gem. § 3 StVO konnte jedoch in die Haftungsabwägung zu Lasten des Klägers nicht eingestellt werden, da er nach dem Sachverständigengutachten in der kritischen Situation nicht kausal für den Unfall geworden ist, der konkrete Unfall vielmehr auch bei Einhalten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht vermeidbar war.

Auch konnte dem Kläger nicht angelastet werden, bei unklarer Verkehrslage entgegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO überholt oder sonst gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO zum Nachteil des Beklagten verstoßen zu haben, da der Einfahrvorgang des Beklagten für den Kläger bei Beginn des Überholvorgangs nach den Feststellungen des Sachverständigen noch nicht erkennbar war.

Der Umstand, dass der Kläger nur unter Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überholen konnte, war im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 und 2 StVO nicht zu Lasten des Klägers zu berücksichtigen.
Soweit aus dem Umstand, dass ein Überholvorgang nur unter Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit möglich ist, auf ein sog. „faktisches Überholverbot“ geschlossen wird, findet eine solche Konzeption nämlich keine hinreichende Stütze im Gesetz.
Insbesondere findet sich eine solche nicht in § 5 StVO. § 5 Abs. 2 StVO normiert lediglich, dass neben dem Ausschluss einer Behinderung des Gegenverkehrs mit wesentlich höherer Geschwindigkeit zu überholen ist. Der Katalog der Überholverbote in § 5 Abs. 3 StVO greift ebenfalls nicht.
Nach der Konzeption der §§ 5 und 3 StVO trifft vielmehr denjenigen, der nur unter Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit überholt, „lediglich“ der Vorwurf, gegen § 3 StVO zu verstoßen.
Damit lässt sich die Konzeption eines „faktischen Überholverbots“ allein damit begründen, dass der Unfall sich nicht ereignet hätte, wenn der Kläger die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten hätte, schlicht weil er dann geschwindigkeitsbedingt nicht hätte überholen können.
Eine solche Sichtweise vernachlässigt aber, dass sich die Kollision nach den Feststellungen des Sachverständigen auch bei Einhalten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den Kläger ereignet hätte, die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit also gerade nicht kausal geworden ist. Bei einer solchen Konstellation verbietet sich nach Auffassung des Senats jedenfalls die Annahme eines faktischen Überholverbots.

Abgesehen davon kann für ein durch einen Geschwindigkeitsverstoß begründetes “faktisches  Überholverbot“ nichts anderes gelten, als für die gesetzlich normierten Überholverbote, die nur den nachfolgenden und den Gegenverkehr schützen sollen (vgl. OLG Hamm, vom 23.04.13 – 9 U 12/13 –), nicht jedoch den Einfahrenden, der vielmehr gem. § 10 StVO gehalten ist, die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer und mithin auch der überholenden Verkehrsteilnehmer auszuschließen. 

 


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