Ein Arzt, der aus vollständig erhobenen Befunden einen falschen Schluss zieht, unterliegt einem – für sich allein noch nicht haftungsbegründenden – Diagnoseirrtum. Dieser stellt erst dann einen haftungsbegründenden Diagnosefehler dar, wenn die Diagnose im Zeitpunkt der medizinischen Behandlung aus der Sicht eines gewissenhaften Arztes medizinisch nicht vertretbar ist.
Das hat der 26. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 29.05.2015 – 26 U 2/13 – entschieden.
In dem der Entscheidung zugrunde liegendem Fall war die Klägerin, 2 Jahre nachdem der beklagte Gynäkologe ihr eine Spirale zur Empfängnisverhütung eingesetzt hatte, ungewollt schwanger geworden und hatte eine gesunde Tochter geboren.
Die Klägerin hatte darauf hin gegen den Beklagten
- mit der Begründung, dass dieser im Rahmen der von ihm durchgeführten Ultraschallkontrolle eine bei ihr vorliegende Anomalie eines Uteres bicornis hätte bemerken und deswegen vom Einsetzen einer Spirale hätte absehen müssen, weil diese bei ihrer Anomalie zur Verhütung ungeeignet war,
Klage erhoben auf Schmerzensgeld von 5.000 Euro, Verdienstausfall von ca. 28.000 Euro und Ersatz von Unterhalts- und Betreuungsleistungen für ihre Tochter bis zum Eintritt der Volljährigkeit.
Die Klage wurde vom 26. Zivilsenat des OLG Hamm abgewiesen, weil
- ein Behandlungsfehler nicht vorlag und
- dem Beklagten auch weder ein Befunderhebungsfehler,
- noch ein haftungsbegründender Diagnosefehler unterlaufen war, sondern lediglich ein vertretbarer, nicht haftungsbegründender Diagnoseirrtum.
Zur Begründung führte der Senat aus, dass ein Arzt, was die Befunderhebung betrifft, insoweit die Einhaltung des medizinischen Standards schuldet, also desjenigen Verhaltens, das von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Standard der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (vgl. etwa Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 15.04.2014 – VI ZR 382/12 –).
Diesen Anforderungen hatte das Vorgehen des Beklagten entsprochen. Er hatte nach den Feststellungen des vom Senat angehörten Sachverständigen alle Untersuchungen vorgenommen, die im Zusammenhang mit der Einlage eines Intrauterinpessars geboten waren, insbesondere neben Spiegelung und Sondierung eine sonographische Kontrolle.
Zu weitergehenden Untersuchungen war er nach dem medizinischen Standard im Zusammenhang mit einer Spiraleneinlage nicht verpflichtet gewesen.
Da Anhaltspunkte, die auf ein eventuelles Vorliegen einer Anomalie bei der Klägerin hindeuteten, fehlten, musste der Beklagte bei der Klägerin nach einer solchen Anomalie nicht fahnden, so dass ihm auch nicht vorgeworfen werden konnte, keine weitergehenden Untersuchungen vorgenommen zu haben, mit denen die Anomalie hätte erkannt werden können.
Ein haftungsbegründender Diagnosefehler lag ebenfalls nicht vor.
Denn, wie der Senat weiter ausführte, stellt das Ziehen eines falschen Schlusses aus den vollständig erhobenen Befunden für sich allein nur einen nicht haftungsbegründenden Diagnoseirrtum dar.
Ein haftungsbegründender Diagnosefehler liegt stattdessen erst vor, wenn die Diagnose für einen gewissenhaften Arzt bei ex-ante-Sicht medizinisch nicht vertretbar ist.
Hiervon war im vorliegenden Fall nach den Gutachten der Sachverständigen nicht auszugehen.
Danach war dem Beklagten nicht vorzuwerfen, dass er die Anomalie der Klägerin nicht erkannt und von einer regelhaften, nur einfachen Anlage ausgegangen ist.
Die bei der Klägerin vorliegende Anomalie ist nämlich nicht nur extrem selten, sondern wegen der in der Regel eng an der Seitenwand anliegenden trennenden Membran bei einer Spiegelung häufig gar nicht erkennbar.
Die Bewertung als regelhafte Genitale ist dann aber mangels Vorliegens anderweitiger Anhaltspunkte nicht zu beanstanden.
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