Tag Überschreitung

Überschreitung der Richtgeschwindigkeit auf der Autobahn muss im Falle einer Kollision mit einem anderen Fahrzeug keine Mithaftung begründen

Vielmehr steht, wenn ein

  • ohne ersichtlichen Grund und
  • ohne Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers

vom rechten auf den linken Fahrstreifen der Autobahn wechselnder Verkehrsteilnehmer einen Auffahrunfall verursacht,

  • weil er den rückwärtigen Verkehr nicht beachtet,

einem auffahrenden Verkehrsteilnehmer,

  • dem nicht nachgewiesen werden kann, dass er durch rechtzeitiges Abbremsen und/oder Ausweichen den Unfall hätte vermeiden können und
  • der mit einem plötzlichen Spurwechsel des anderen nicht rechnen musste, sondern darauf vertrauen durfte, dass der andere den rechten Fahrstreifen nicht grundlos verlässt,

auch bei maßvoller Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h vor dem Zusammenstoß 100 %-iger Schadensersatz zu, weil in einem solchen Fall

  • der Umstand, dass der Auffahrende durch das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit den Unfall mitverursacht hat,
  • aufgrund des groben Verschuldens des Fahrstreifenwechslers (ohne rechtzeitige deutliche Ankündigung und ohne Ausschluss der Gefährdung Anderer), auch unter dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr, keine Mithaftung rechtfertigt.

Darauf hat der 7. Senat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Beschluss vom 21.12.2017 – 7 U 39/17 – hingewiesen.

Begründet hat der Senat dies damit, dass die mit der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit für einen vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer häufig verbundene Gefahr,

  • dass die Annäherungsgeschwindigkeit des rückwärtigen Verkehrs unterschätzt wird,

sich nicht verwirklicht, wenn

  • der den Fahrstreifen wechselnde Verkehrsteilehmer den rückwärtigen Verkehr gar nicht beachtet hat oder
  • die empfohlene Richtgeschwindigkeit von dem Auffahrenden nur maßvoll überschritten wurde (Quelle: Pressemitteilung des OLG Hamm vom 08.03.2018).

War sehr starker Drang zur Verrichtung der Notdurft ursächlich für eine Geschwindigkeitsüberschreitung kann dies

…. im Einzelfall ausnahmsweise ein Grund sein von einem an sich verwirkten Regelfahrverbot abzusehen.

Darauf hat der 4. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Beschluss vom 10.10.2017 – 4 RBs 326/17 – hingewiesen

Voraussetzung für einen solchen Ausnahmefall ist allerdings, dass der für die Überschreitung der Geschwindigkeit beispielsweise starke Harndrang durch eine besondere körperliche Disposition,

  • wie etwa eine nach einer Prostataoperation nur noch eingeschränkte Kontinenz oder
  • eine schwache Blase,

bedingt gewesen ist.

  • Dies allein reicht jedoch nicht aus, weil andernfalls der betroffene Personenkreis gleichsam einen „Freibrief“ für pflichtwidriges Verhalten im Straßenverkehr erhalten würde.

Vielmehr muss ein Betroffener mit einer solchen körperlichen Disposition,

  • damit ein Absehen von einem Regelfahrverbot in Betracht kommt,

auch glaubhaft dartun können, dass er,

  • um zu verhindern, dass ihn ein starker Drang zur Verrichtung der Notdurft zu pflichtwidrigem Verhalten verleitet,

seine Fahrt

  • entsprechend geplant,
  • gewisse Unwägbarkeiten (wie etwa Stau, Umleitungen etc.) in seine Planungen eingestellt und
  • entsprechende Vorkehrungen getroffen oder
  • auf anfänglich aufgetretenen Harn- oder Stuhldrang rechtzeitig reagiert hat.

Insbesondere Betroffene,

  • die häufiger in eine Situation kommen,
  • in der bei ihnen dringender Harndrang auftritt,

müssen sich hierauf entsprechend eingestellt haben, weil sich das Maß ihrer Pflichtwidrigkeit erhöhen würde, wenn sie ein Fahrzeug führen,

  • obwohl sie wegen jederzeit auftretenden quälenden Harndrangs, um schneller zu einer Toilette zu gelangen, der zulässigen Höchstgeschwindigkeit keine Beachtung mehr schenken können (Quelle: Pressemitteilung des OLG Hamm vom 03.11.2017).

Haftet Wartepflichtiger, der einem schneller als erlaubt Fahrenden die Vorfahrt nimmt, bei Unfall mit?

Kommt es zu einem Unfall, weil

  • der auf der bevorrechtigten Straße fahrende Fahrzeugführer vor dem Zusammenstoß die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich überschritten und
  • ein anderer, von einer untergeordneten Straße kommender und wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit des Vorfahrtsberechtigten falsch eingeschätzt und geglaubt hat, es noch vor diesem über die Straße zu schaffen,

kann die Geschwindigkeitsüberschreitung des Vorfahrtsberechtigten in der Regel nicht dessen alleinige Haftung rechtfertigen.

Darauf hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 23.02.2016 – 9 U 43/15 – hingewiesen und in einem Fall, in dem

  • ein vorfahrsberechtigter, statt zulässiger 50 km/h, 121 km/h schnell fahrender Motorradfahrer mit einem ca. 250 m vor ihm aus einer rechtsseitig gelegenen, untergeordneten Autobahnabfahrt nach links abbiegenden Pkw-Fahrer zusammengestoßen war,

auf eine Haftungsverteilung von 30 % zu 70 % zu Lasten des vorfahrtsberechtigten Motoradfahrers erkannt.

Dass der Motorradfahrer wegen seines überwiegenden Verschuldens nicht allein haftet, sondern in diesem Fall eine 30 %ige Haftung des Pkw-Fahrers für das Unfallgeschehen gerechtfertigt ist, hat der Senat damit begründet, dass

  • zwar auf Seiten des Motorradfahrers die unfallursächliche, massive Tempoüberschreitung zu berücksichtigen sei,
  • aber auch auf Seiten des Pkw-Fahrers ein schuldhaftes Verhalten deshalb vorliege, weil
    • das herannahende Motorrad für den Pkw-Fahrer bei Beginn des Abbiegevorgangs zu sehen gewesen sei und
    • er bei ausreichender Beobachtung die erhebliche Geschwindigkeit des Motorrads hätte erkennen können sowie demzufolge zuwarten müssen.

Abgesehen davon hätte der Pkw-Fahrer auch keinesfalls, wie in dem der Entscheidung zugrunde liegendem Fall geschehen,

  • langsam und mit nur geringer Beschleunigung abbiegen dürfen,
  • sondern – wenn überhaupt – zügig anfahren müssen.

In beiden dieser Fälle,

  • beim Zuwarten und
  • laut Angaben des vom Senat befragten Sachverständigen, auch beim zügigen Abbiegen,

wäre der Zusammenstoß vermieden worden (Quelle: Pressemitteilung des OLG Hamm vom 24.06.2016).

Wann droht eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung?

Steht fest, dass

  • einem Fahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit bekannt war und
  • er diese um mehr als 40 % überschritten hat,

kann der Bußgeldrichter – ohne weitere Feststellungen zum Wissen und Wollen des Fahrzeugführers –

  • von einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung ausgehen,
  • also davon, dass der Fahrzeugführer nicht nur aus Unachtsamkeit fahrlässig, sondern wissentlich und willentlich zu schnell gefahren ist und diesen demzufolge wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilen.

Das hat der 4. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Beschluss vom 10.05.2016 – 4 RBs 91/16 – entschieden und in einem Fall,

  • in dem ein Betroffener, der mit seinem Pkw, wie die Polizei mittels Lasermessung festgestellt hatte, innerorts statt 50 km/h, 78 km/h schnell gefahren und vom Amtsgericht deshalb wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verurteilt worden war,
  • die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen dieses Urteil verworfen.

Begründet hat der Senat die Entscheidung, dass eine vorsätzliche Überschreitung der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit vorgelegen hat, damit, dass

  • vorsätzlich eine Geschwindigkeitsüberschreitung begeht, wer die Geschwindigkeitsbeschränkung kennt und bewusst dagegen verstößt,
  • jeder Autofahrer weiß, dass innerhalb einer geschlossenen Ortschaft man mit dem Pkw regelmäßig nur 50 km/h fahren darf,
  • für ein vorsätzliches Handeln der Grad der Überschreitung ein starkes Indiz sein kann, wobei es auf das Verhältnis zwischen der gefahrenen und der vorgeschriebenen Geschwindigkeit ankommt und
  • der Erfahrungssatz besteht, dass einem Fahrzeugführer die erhebliche Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit aufgrund der Fahrgeräusche und der vorüberziehenden Umgebung jedenfalls dann nicht verborgen bleibt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als 40 % überschritten wird (Quelle Pressemitteilung des OLG Hamm vom 06.06.2016).

Da bei einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung

  • nicht nur ein höheres Bußgeld verhängt werden kann als im Bußgeldkatalog vorgesehen ist, dessen Bußgeldsätze von fahrlässiger Begehungsweise ausgehen,
  • sondern es auch Probleme mit der Verkehrs-Rechtschutzversicherung hinsichtlich der Kostenübernahme geben kann,

ist in solchen Fällen, nach Erhalt des Bußgeldbescheides, die Zuziehung eines Rechtsanwalts, insbesondere eines Fachanwalts für Verkehrsrecht, dringend zu empfehlen.