Nach § 198 Abs. 1 S. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet.
In zeitlicher Hinsicht erfasst der Begriff des Gerichtsverfahrens nach der Legaldefinition in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG alle Verfahrensstadien von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss.
Der Begriff „Einleitung“ meint alle Formen, mit denen ein Verfahren in Gang gesetzt wird, unabhängig davon, ob dies durch Antrag oder Klageerhebung oder, wie im Strafverfahren, von Amts wegen geschieht.
§ 199 Abs. 1 GVG erstreckt den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren.
Dieses ist eingeleitet, sobald die Staatsanwaltschaft (§ 160 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO)) oder eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes (§ 163 StPO) eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden strafrechtlich vorzugehen.
Dabei ist Beschuldigter derjenige, gegen den polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung geführt werden.
Die Beschuldigteneigenschaft kann nur durch einen Willensakt der zuständigen Strafverfolgungsbehörde begründet werden, der regelmäßig in der förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens liegt.
Ausreichend ist es aber auch, wenn gegen den Betroffenen faktische Maßnahmen ergriffen werden, die erkennbar zum Ziel haben, ihn als Täter einer Straftat zu überführen.
In Strafsachen beginnt der nach § 198 Abs. 1 GVG zu beurteilende Zeitraum für den Beschuldigten aber nicht bereits mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, sondern – der förmlichen Einleitung regelmäßig nachfolgend – erst mit der Eröffnung der Beschuldigung oder mit einer die Person ernsthaft beeinträchtigenden Ermittlungsmaßnahme.
Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 S.1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. § 198 Abs. 1 S. 2 GVG benennt die Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind, nur beispielhaft („insbesondere“) und ohne abschließenden Charakter.
Ein weiteres bedeutsames Kriterium zur Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer ist die Verfahrensführung durch das Gericht, die unter Berücksichtigung des den Gerichten zukommenden Gestaltungsspielraums zu den in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG benannten Kriterien in Bezug zu setzen ist.
Eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, ist nicht möglich und würde im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit bereits an der Vielgestaltigkeit der Verfahren und prozessualen Situationen scheitern. Mit der Entscheidung des Gesetzgebers, dass sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles richtet (§ 198 Abs. 1 S. 2 GVG), wurde bewusst von der Einführung bestimmter Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen. Die Ausrichtung auf den Einzelfall ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut des Gesetzes, wird durch dessen Entstehungsgeschichte bestätigt und entspricht dem in den Gesetzesmaterialien klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers.
Der Verzicht auf allgemeingültige Zeitvorgaben schließt es regelmäßig aus, die Angemessenheit der Verfahrensdauer allein anhand statistischer Durchschnittswerte zu ermitteln.
Ebenso wenig kommt ein Evidenzkriterium in dem Sinne in Betracht, dass eine bestimmte Verfahrensdauer schon für sich genommen ohne Einzelfallprüfung als unangemessen eingestuft werden müsste.
Feste Zeitvorgaben können auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht entnommen werden.
Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat keine festen Zeitgrenzen aufgestellt und beurteilt die Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles.
Unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 1 GVG ist die Verfahrensdauer dann, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 S. 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.
Der unbestimmte Rechtsbegriff der „unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens“ (§ 198 Abs. 1 S. 1 GVG) und die ihn ausfüllenden Merkmale im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG müssen unter Rückgriff auf die Grundsätze näher bestimmt werden, die der EGMR zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und das BVerfG zum Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und zum Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) entwickelt haben, zumal diese gefestigte Rechtsprechung dem Gesetzgeber bei der Textfassung des § 198 Abs. 1 GVG zum Vorbild diente.
Bezugspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit ist als maßgeblicher Zeitraum die Gesamtverfahrensdauer, wie sie § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definiert.
Dies hat zur Konsequenz, dass Verzögerungen, die in einem Stadium des Verfahrens oder bei einzelnen Verfahrensabschnitten eingetreten sind, nicht zwingend die Unangemessenheit der Verfahrensdauer bewirken.
Es ist vielmehr im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung zu überprüfen, ob Verzögerungen innerhalb einer späteren Phase des Verfahrens kompensiert wurden.
Hierbei muss auch in den Blick genommen werden, dass die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, mit zunehmender Verfahrensdauer sich verdichtet.
Durch die Anknüpfung des gesetzlichen Entschädigungsanspruchs gemäß § 198 GVG an die Verletzung konventions- und verfassungsrechtlicher Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG) wird deutlich gemacht, dass die durch die lange Verfahrensdauer verursachte Belastung einen gewissen Schweregrad erreichen muss.
Es reicht nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung aus.
Vielmehr muss die Verfahrensdauer eine Grenze überschreiten, die sich auch unter Berücksichtigung gegenläufiger rechtlicher Interessen für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt oder unverhältnismäßig darstellt.
Bedeutsames Kriterium zur Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines Gerichtsverfahrens ist auch die Verfahrensführung durch das Gericht.
Zu prüfen ist, ob Verzögerungen, die mit der Verfahrensführung im Zusammenhang stehen, bei Berücksichtigung des dem Gericht zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind.
Dabei kann die Verfahrensführung nicht isoliert für sich betrachtet werden. Sie muss vielmehr zu den in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG benannten Kriterien in Bezug gesetzt werden.
Maßgebend ist, ob das Gericht gerade in Relation zu jenen Gesichtspunkten den Anforderungen an eine angemessene Verfahrensdauer in jedenfalls vertretbarer Weise gerecht geworden ist, wobei das Ausgangsgericht die Sach- und Rechtslage aus seiner Sicht ex ante einschätzen darf.
Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts darf der verfassungsrechtliche Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht unberücksichtigt bleiben.
Da die zügige Erledigung eines Rechtsstreits kein Selbstzweck ist und das Rechtsstaatsprinzip die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands durch das dazu berufene Gericht verlangt, muss dem Gericht in jedem Fall eine angemessene Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen. Es benötigt einen Gestaltungsspielraum, der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind.
Erst wenn die Verfahrenslaufzeit in Abwägung mit den weiteren Kriterien im Sinne von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG auch bei Berücksichtigung dieses Gestaltungsspielraums sachlich nicht mehr zu rechtfertigen ist, liegt eine unangemessene Verfahrensdauer vor.
Im Entschädigungsprozess gilt – wie auch sonst im Zivilprozess – der Beibringungsgrundsatz. Der Entschädigungskläger muss die Tatsachen vortragen und gegebenenfalls beweisen, die nach seiner Auffassung eine unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens begründen.
Unerheblich ist, ob es sich bei dem Ausgangsverfahren um einen Zivilprozess oder ein Strafverfahren handelt. Nicht anders als im Amtshaftungsprozess hat der Kläger die konkreten gerichtlichen Maßnahmen beziehungsweise Unterlassungen zu benennen, die aus seiner Sicht eine vermeidbare Verzögerung des Rechtsstreits zur Folge hatten. Eine bloße Bezugnahme auf die Akten des Ausgangsverfahrens reicht für einen schlüssigen Klagevortrag nicht aus.
Bei gerichtsorganisatorischen Mängeln und Defiziten sowie sonstigen Umständen, die im Bereich der Justiz liegen und dem Einblick des Klägers entzogen sind, wird demgegenüber seitens der Gerichtsverwaltung Erklärungsbedarf bestehen.
Darauf hat der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 14.11.2013 – III ZR 376/12 – hingewiesen.
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