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AG Hannover entscheidet: Luftfahrtunternehmen muss einem Kleinkind wegen Flugverspätung 400 Euro Ausgleichszahlung leisten

Mit Urteil vom 04.06.2020 – 515 C 12585/19 – hat das Amtsgericht (AG) Hannover in einem Fall, in dem ein, 

  • von Eltern für sich und ihrem noch nicht ein Jahr altem Kleinkind bei einem deutschen Luftfahrtunternehmen 

gebuchter Flug, von Heraklion nach Nürnberg, erst mehr als drei Stunden später als vorgesehen das Endziel erreicht hatte, auch dem Kleinkind   

  • nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b), Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – FluggastrechteVO)  

die Ausgleichsleistung in Höhe von 400 Euro zugesprochen. 

Begründet hat das AG dies damit, dass   

hier jedoch davon auszugehen sei, dass für das Kleinkind ein Flugpreis in Höhe von 15 Euro gezahlt worden sei, nachdem

  • einerseits in der Buchungsbestätigung eine Auflistung erfolgt war, unter der sich 
    • neben den Gepäckstücken und der Verpflegung auch der Eintrag „1x Kleinkind(er)“ fand, 
  • andererseits aber es in den Fluginformationen der Flugunternehmens unter der Überschrift „Kinderermäßigung“ geheißen hatte: 
    • „Kleinkinder im Alter von 0 bis einschließlich 1 Jahr zahlen 15 EUR pro Flugstrecke“, 

dies somit nicht klar habe erkennen lasse, ob es sich bei den 15 Euro handeln sollte,

  • um eine erhobene Verwaltungsgebühr, 
    • wofür die Auflistung in der Buchungsbestätigung sprechen könnte oder
  • um einen für Kleinkinder reduzierten Flugpreis, 
    • wofür die Überschrift „Kinderermäßigung“ in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) des Flugunternehmens spricht   

und diese Unklarheit bei der Auslegung gemäß § 305c Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu Lasten des Flugunternehmens gehe (Quelle: Pressemitteilung des AG Hannover).

Hinweis:
Dazu, 

  • wann gegen ein Luftfahrtunternehmen bei verspäteter Ankunft ein Ausgleichsanspruch in welcher Höhe besteht, 
  • worauf bei der Bestimmung des Ausmaßes der Verspätung abzustellen ist, 
  • was maßgebend für die Entfernungsberechnung ist und 
  • was außergewöhnliche Umstände sein können, die einem Ausgleichsanspruch entgegenstehen können,

vgl. auch den Blogeintrag:

Wann haben Fluggäste, deren Flug verspätet gegenüber der ursprünglich vorgesehenen Ankunftszeit am Zielflughafen

…. ankommt, Anspruch auf eine Ausgleichszahlung?

Einen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – FluggastrechteVO)

in Höhe von

  • 250 Euro bei Flügen über eine Entfernung von 1.500 km oder weniger,
  • 400 Euro bei allen Flügen innerhalb der EU über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km sowie
  • von 600 Euro bei allen anderen Flügen,

haben Fluggäste,

  • unbeschadet eines weitergehenden Schadensersatzanspruches,

dann, wenn

  • ihr Flug erst mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr das Endziel erreicht hat,
  • der Flug
    • angetreten worden ist von einem Flughafen in einem EU-Land oder
    • bei Antritt von einem Flughafen in einem Drittstaat zu einem Flughafen in einem EU-Land, durchgeführt worden ist von einem Flugunternehmen mit Firmensitz in der EU
  • die Fluggäste
    • nicht kostenlos (wie beispielsweise mitunter kostenlos mitreisende Kleinkinder (vgl. BGH, Urteil vom 17.03.2015 – X ZR 35/14 –) oder
    • zu einem reduzierten Tarif gereist sind, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist

und

  • die Verspätung nicht auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch von dem Flugunternehmen dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären (Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO).

Endziel eines Fluges ist

  • der Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein,
  • bei direkten Anschlussflügen der Zielort des letzten Fluges.

Bei der Bestimmung des Ausmaßes der Verspätung ist abzustellen auf den Zeitpunkt,

Maßgebend für die Entfernungsberechnung und damit für die Höhe des Ausgleichszahlungsanspruchs ist,

  • wenn es sich um einen Flug mit Anschlussflügen gehandelt hat,

die Luftlinienentfernung zwischen dem Startflughafen und dem Endzielflughafen,

  • die nach der Großkreisentfernung (vgl. Art. 7 Abs. 4 FluggastrechteVO) zu ermitteln ist,

unabhängig von der tatsächlich zurückgelegten Flugstrecke, also

  • die Luftlinienentfernung, die ein Direktflug zwischen dem Start- und dem Zielflughafen zurücklegen würde,

was bedeutet, dass bei einem gebuchten Flug

  • beispielsweise von Rom über Brüssel nach Hamburg,
  • der in Hamburg mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der ursprünglich vorgesehenen Ankunftszeit ankommt,

sich die Höhe des Ausgleichs der dem Fluggast zusteht, richtet nach

  • der Luftlinienentfernung zwischen dem Startflughafen Rom und dem Zielflughafen Hamburg
  • und nicht nach der Luftlinienentfernung zwischen Rom und Brüssel zuzüglich der Luftlinienentfernung zwischen Brüssel und Hamburg (so EuGH, Urteil vom 07.09.2017 in der Rechtssache C-559/16).

Außergewöhnliche Umstände i.S.v. Art. 5 Abs. 3 der FluggastrechteVO, die einem Ausgleichsanspruch wegen erheblicher Verspätung entgegenstehen, sind beispielsweise

  • Sabotageakte oder terroristische Handlungen,
  • Naturereignisse wie etwa ein Vulkanausbruch oder eine Kollision mit Vögeln,
  • vom Maschinenhersteller oder der zuständigen Behörde entdeckte versteckte, die Flugsicherheit beeinträchtigende Fabrikationsfehler bei bereits in Betrieb genommenen Maschinen,
  • aber auch eine behördliche Anordnung, die Auswirkungen auf den Flugbetrieb hat oder ein den Betrieb beeinträchtigender Streik (nicht jedoch ein wilder Streik (EuGH, Urteil vom 17.04.2018 in der Rechtssache C-195/17)).

Keine außergewöhnlichen Umstände sind dagegen

  • wilde Streiks,
  • stattgefundene Kollisionen zwischen einem Flugzeug oder einem Fahrzeug, das bei der Beförderung von Fluggästen im Luftverkehr notwendigerweise eingesetzt wird, wie beispielsweise einem Treppenfahrzeug oder einem Gepäckwagen und
  • ein unerwartet auftretendes technisches Problem, wie beispielsweise ein unerwartet defekt gewordenes Teil, das erst geliefert und eingebaut werden musste (EuGH, Urteil vom 17.09.2015 in der Rechtssache C-257/14).

Fluggäste sollten wissen, dass sie auch bei Verspätungen von Anschlussflügen außerhalb der EU Anspruch auf eine Abschlagszahlung haben können

Darauf hat die Achte Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) mit Urteil vom 31.05.2018 in der Rechtssache C-537/17 hingewiesen.

Danach haben Fluggäste nach Art. 7 Abs. 1 der Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004) auch dann Anspruch auf eine Ausgleichszahlung, wenn

  • sich bei einem gebuchten Flug mit Abflugort im Gebiet eines Mitgliedstaats der EU und Zielort außerhalb der EU,
  • die Flugbuchung eine Zwischenlandung im Gebiet eines Drittstaates mit Anschlussflug von dort sowie einen Wechsel des Flugzeugs beinhaltet und
  • dieser Anschlussflug das Endziel (das istder Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussflügen der Zielort des letzten Fluges des betreffenden Fluggasts) erst mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr erreicht.

Begründet hat der EuGH dies damit, dass

  • zwei (oder mehr) Flüge, die Gegenstand einer einzigen Buchung sind, in Bezug auf den Ausgleichsanspruch von Fluggästen eine Gesamtheit darstellen,
  • diese Flüge somit als ein und derselbe Flug mit Anschlussflügen anzusehen sind und
  • es für diese Einstufung auch unerheblich ist, wenn bei einem Flug mit Anschlussflügen das Flugzeug gewechselt wird.

BGH entscheidet: Fluggäste haben Anspruch auf Ausgleichszahlung auch

…. bei einer Verspätung des für einen annullierten Flug angebotenen Ersatzfluges von mehr als zwei Stunden.

Mit Urteil vom 10.10.2017 – X ZR 73/16 – hat der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) entschieden, dass ein

Flugunternehmen,

  • das einen gebuchten Flug annulliert und den betroffenen Fluggästen am vorgesehenen Abflugtag als Ersatz einen Flug eines anderen Luftverkehrsunternehmens anbietet,

verpflichtet bleibt, den Fluggästen

  • wegen der Annullierung des Fluges

eine Ausgleichszahlung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Nr. iii i.V.m. Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechteverordnung – FluggastrechteVO) zu zahlen, wenn

  • die Fluggäste das Endziel mit dem Ersatzflug
  • nicht tatsächlich höchstens zwei Stunden nach der ursprünglich vorgesehenen planmäßigen Ankunftszeit erreichen.

Zur Befreiung des den Flug annullierenden Flugunternehmens von der Ausgleichzahlungspflicht reicht es demzufolge nicht aus, dass der angebotene Ersatzflug,

  • wenn er planmäßig durchgeführt worden wäre,

den Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Nr. iii FluggastrechteVO entsprochen hätte.

  • Vielmehr ist ein Ausgleichsanspruch nur dann ausgeschlossen, wenn der Fluggast das Endziel mit dem Ersatzflug auch tatsächlich höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht hat (Quelle: Pressemitteilung des BGH vom 10.10.2017 – Nr. 158/2017 –).

Übrigens:
Unterfällt das den Ersatzflug ausführende Luftverkehrsunternehmen dem Geltungsbereich der Fluggastrechteverordnung und

  • beträgt dessen Verspätung am Endziel
  • drei Stunden oder mehr,

kann wegen dieser Verspätung auch gegen das ausführende Luftverkehrsunternehmen ein Ausgleichszahlungsanspruch geltend gemacht werden (BGH, Urteil vom 07.05.2013 – X ZR 127/11 –).

Was Fluggäste wissen sollten, wenn sie wegen Flugverspätung einen Anschlussflug nicht erreichen

Anspruch auf die Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004) haben

Endziel

  • ist der Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein,
  • bei direkten Anschlussflügen ist der Zielort des letzten Fluges maßgebend.

Dass ein Ausgleichsanspruch besteht, wenn das die Verspätung (und damit die Nichterreichung des Anschlussfluges) verursachende Luftfahrtunternehmen für beide Flüge

  • einen Flugschein oder
  • eine Buchungsbestätigung

ausgegeben hat, hat der EuGH mit Urteil vom 26.02.2013 – C-11/11 – bereits entschieden.

Noch nicht hinreichend geklärt ist dagegen die Frage, ob ein Ausgleichsanspruch auch dann besteht, wenn ein Fluggast, der eine Pauschalreise gebucht hat,

  • wegen einer relativ geringfügigen Ankunftsverspätung einen direkten Anschlussflug nicht erreicht und
  • dies eine Verspätung von drei Stunden und mehr am Endziel zur Folge hat,
  • die beiden Flüge aber von unterschiedlichen Luftfahrtunternehmen ausgeführt wurden und
  • die Buchungsbestätigung durch ein Reiseunternehmen erfolgte, das die Flüge für seinen Kunden zusammengestellt hat?

Der unter anderem für das Reise- und Personenbeförderungsrecht zuständige X. Zivilsenat des BGH

  • neigt zwar dazu, auch in einem solchen Fall einen Ausgleichsanspruch zu bejahen,
  • ist aber der Auffassung, dass sich dieses Ergebnis aus dem maßgeblichen europäischen Recht nicht hinreichend sicher ableiten lässt und

hat deshalb mit Beschluss vom 19.07.2016 – X ZR 138/15 – dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt,

  • ob ein Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Fluggastrechteverordnung auch bei einer solchen Fallgestaltung bestehen kann (Quelle: Pressemitteilung des BGH Nr. 127/2016 vom 19.07.2016).