Tag Erblindung

Was an einer erblich bedingten Netzhauterkrankung leidende gesetzlich Krankenversicherte wissen sollten

Mit Urteil vom 18.06.2019 – S 9 KR 1689/18 – hat das Sozialgericht (SG) entschieden, dass, gesetzlich Krankenversicherte, die

  • an Retinitis pigmentosa, einer erblich bedingten Netzhauterkrankung leiden, nahe dem Endstadium mit drohender Erblindung,

einen Anspruch auf Kostenerstattung aus § 2 Abs. 1a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) für die Behandlung

  • mit der Transkornealen Elektrostimulationstherapie unter Verwendung des OkuStim-Systems

haben.

Begründet hat das SG dies damit, dass

  • eine medizinische Therapie zur Behandlung der Erkrankung derzeit nicht zur Verfügung steht,
  • eine drohende Erblindung wertungsmäßig mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung vergleichbar ist

und

  • die Transkorneale Elektrostimulationstherapie eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bietet.

Dass der Nutzen dieser Therapie noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen ist, schadet danach deswegen nicht, da, so das SG, bei ansonsten hoffnungslosen Situationen, wie hier der drohenden Erblindung,

  • ein geringerer Evidenzgrad an den Nutzen der streitgegenständlichen Therapie zu stellen sei

und

  • nach den Anwendungsbeobachtungen der Transkornealen Elektrostimulationstherapie und kleineren Studien in Zusammenschau mit dem wissenschaftlichen Erklärungsmodell der Methode ausreichende Indizien für eine positive Einwirkung vorlägen (Quelle: Pressemitteilung des SG Stuttgart).

Unterlassene Augeninnendruckmessung kann grober Befunderhebungsfehler sein

Darauf hat der 26. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 10.05.2016 – 26 U 107/15 – hingewiesen und eine Augenärztin zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 80.000 Euro verurteilt,

  • weil sie es bei einer an Diabetes mellitus sowie fortschreitender Verschlechterung ihrer Sehleistung leidenden, damals 11 Jahre alten Patientin versäumt hatte, mittels einer Augeninnendruck- und einer Gesichtsfeldmessung der Ursache der nur noch vorhandenen Sehfähigkeit von 60 % weiter nachzugehen und
  • die Patientin in der Folgezeit, nachdem Versuche eines anderen von ihr konsultierten Augenarztes den erhöhten Augendruck medikamentös zu senken erfolglos geblieben waren, notfallmäßig in eine Augenklinik hatte aufgenommen sowie sich, wegen des bei ihr dort diagnostizierten fortgeschrittenen sog. Grünen Star, mehreren Augenoperationen hatte unterziehen müssen, die jedoch eine hochgradige Verschlechterung ihrer Sehfähigkeit auf Werte unterhalb von 30 % nicht mehr verhindern konnten.

Begründet hat der von einem medizinischen Sachverständigen beratene Senat seine Entscheidung damit,

  • dass der Augenärztin, weil sie die angesichts der bei der Patientin vorhandenen Beeinträchtigung der Sehfähigkeit gebotene Augeninnendruck- und Gesichtsfeldmessung unterlassen habe, ein grober Befunderhebungsfehler anzulasten sei und
  • der Patientin demzufolge, soweit es um die Folgen dieses Behandlungsfehlers gehe, eine Beweiserleichterung zugute komme, der Augenärztin demzufolge die bei der Patientin eingetretenen Folgen zuzurechnen seien, da der weitere Verlust der Sehfähigkeit durch eine frühere medikamentöse Behandlung des erhöhten Augeninnendrucks möglicherweise hätte erheblich geringer ausfallen können.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist vom Senat u.a. berücksichtigt worden, dass

  • der Patientin durch die verspätete Behandlung die Möglichkeit genommen worden ist, ein adäquates Leben zu führen,
  • sie beispielsweise bei sportlichen Aktivitäten stark eingeschränkt ist, sie keinen Pkw wird führen können, sie einen Beruf wird ergreifen müssen, der ihrer stark eingeschränkten Sehfähigkeit Rechnung trägt, sie einen für ihre geringe Sehkraft speziell eingerichteten Arbeitsplatz benötigen wird und
  • zudem davon ausgegangen werden muss, dass sie noch zu Lebzeiten erblinden wird.

Die 80.000 Euro sollen dabei, nachdem der Zeitpunkt der vollständigen Erblindung noch nicht sicher bestimmbar ist, nur das Risiko der Erblindung ausgleichen, nicht aber die tatsächliche Erblindung selbst.