Tag Gehfähigkeit

Angehörige und Betreuer von an einer Hirnleistungsschwäche Leidenden sollten wissen, wann diese das Merkzeichen aG

…. für außergewöhnliche Gehbehinderung im Schwerbehindertenausweis auch dann erhalten können, wenn bei ihnen eine verminderte Gehfähigkeit nicht besteht.

Mit Urteil vom 30.01.2020 – S 16 SB 110/17 – hat die 16. Kammer des Sozialgerichts (SG) Gießen im Fall eines

  • an einem schwerstgradig ausgeprägten Autismussyndrom

leidenden Betroffenen,

  • der nicht in der Lage war, Handlungen zu planen und alleine durchzuführen,
  • der sich alleine weder orientieren noch Gefahren einschätzen konnte und die gesamte Zeit beaufsichtigt werden musste und
  • den eine erwachsene Person allein, trotz voller Umklammerung des Oberkörpers, praktisch nicht festhalten konnte,

entschieden, dass

  • dieser dem aG-berechtigten Personenkreis gleichzustellen ist.

Danach ist ein Betroffener,

  • der bei einem Abstellen lediglich auf sein physisch mögliches Gehen, zwar nicht zu dem in § 229 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) beschriebenen Personenkreis gehört,

diesem Personenkreis im Hinblick auf seine mentale Beeinträchtigung (schwerstgradig ausgeprägtes Autismussyndrom) dann gleichzustellen, wenn

  • bei seiner ausgeprägten mentalen Behinderung jederzeit damit gerechnet werden muss, dass er
    • sich von der jeweiligen Begleitperson losreißt,
    • von dieser wegläuft oder
    • in impulsiven/aggressiven Ausbrüchen gegen die Begleitperson oder Dritte losgeht

und er aufgrund der Auswirkungen seiner Erkrankung somit

  • auch mit einer verantwortungsbewussten Begleitperson nichtmehr geführt werden kann,
  • sondern eine Beförderung mit einem Reha-Buggy erforderlich ist (Quelle: Pressemitteilung des SG Gießen).

An fortgeschrittener Multipler Sklerose leidende, gesetzlich Krankenversicherte sollten wissen, dass sie Anspruch auf Versorgung mit

…. dem modernen, technisch aufwändige Fußheber-System Ness L 300 als Hilfsmittel haben können.

Darauf hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg am 19.06.2018 – L 11 KR 1996/17 – hingewiesen.

Danach müssen Krankenkassen für MS-Erkrankten, deren Gehfähigkeit stark beeinträchtigt ist, das

  • drahtlos kleine elektrische Impulse an den Wadenbeinnerv sendende, dadurch die Fußheber stimulierende und
  • in Echtzeit die Gehposition, die verschiedenen Gehgeschwindigkeiten sowie Änderungen in der Untergrundbeschaffenheit erfassende,

Fußheber-System Ness L 300 als Hilfsmittel (Kostenpunkt ca. 5.500 Euro + verschiedene Zusatzkosten, wie Einweisung, Anpassung, Software-Update) bezahlen, wenn das System

  • ärztlich verordnet worden ist und
  • für die Gehfähigkeit und Mobilität des Versicherten entscheidende Verbesserungen mit sich bringt.

In einem solchen Fall ist, so das LSG, die Versorgung mit dem Fußheber-System Ness L 300,

  • das nicht der eigentlichen Krankenbehandlung diene,
  • sondern als Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich das Ziel habe, die Gehfähigkeit und Mobilität der Versicherten zu verbessern,

erforderlich sowie gerechtfertigt.

Denn im Bereich des unmittelbaren Behinderungsausgleichs, so das LSG weiter, haben Versicherte

  • nach § 33 Abs. 1 Satz 1 und 5 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) Anspruch auf einen möglichst weitgehenden Ausgleich des Funktionsdefizits unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts und
  • dürfen nicht auf kostengünstigere, aber weniger wirksame Hilfsmittel verwiesen werden (Quelle: Pressemitteilung des LSG Stuttgart vom 26.06.2018).