Tag Wartepflichtiger

Radfahrer verlieren ihr Vorfahrtsrecht nicht dadurch, dass sie einen Radweg entgegen der Fahrtrichtung befahren

… haften aber mit bei einer Kollision mit einem wartepflichtigen Pkw.

Darauf hat der 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm vom 04.08.2017 – 9 U 173/16 – hingewiesen.

Danach haftet ein Autofahrer zwar überwiegend,

  • wenn er aus einer untergeordneten Straße kommt und beim Überqueren der bevorrechtigten Straße oder beim Abbiegen nach rechts in die bevorrechtigte Straße mit einem Radfahrer kollidiert,
  • der den dort vorhandenen kombinierten Geh- und Radweg verbotswidrig entgegen der Fahrtrichtung befährt,

weil

  • ein Radfahrer sein Vorfahrtsrecht gegenüber kreuzenden und einbiegenden Fahrzeugen aus untergeordneten Straßen auch dann behält,
  • wenn er verbotswidrig den linken von zwei vorhandenen Radwegen nutzt.

Jedoch haftet der Radfahrer in einem solchen Fall deshalb für die Unfallfolgen mit, weil er den Unfall,

  • durch das verbotswidrige Befahren des an der Unfallstelle vorhandenen Geh- und Radwegs entgegen der freigegebenen Fahrtrichtung,

mitverschuldet hat (Quelle: Pressemitteilung des OLG Hamm vom 30.08.2017).

Vorfahrtsberechtigte die irreführend blinken haften bei einem Unfall mit

Darauf hat das Amtsgericht (AG) Oberndorf mit Urteil vom 21.04.2016 – 2 C 434/15 – hingewiesen.

Danach haftet ein an einer Kreuzung Wartepflichtiger im Falle eines Unfalls zwar überwiegend, wenn

  • sich aus seiner Sicht von links ein vorfahrtsberechtigtes nach rechtsblinkendes Fahrzeug der Kreuzung nähert,
  • ohne seine Geschwindigkeit zu verringern und

es zur Kollision der beiden Fahrzeuge kommt, weil

  • der Wartepflichtige im Vertrauen darauf losfährt, dass der Vorfahrtsberechtigte abbiegen wird,
  • dieser aber stattdessen geradeaus (weiter) fährt.

Denn sind,

  • abgesehen von einem gesetzten Blinker,

bei einem vorfahrtsberechtigten Fahrzeug

  • keine weiteren Anhaltspunkte für ein Abbiegen (wie zum Beispiel: Verlangsamung der Geschwindigkeit) ersichtlich,

darf ein Wartepflichtiger aufgrund seiner gesteigerten Sorgfaltspflicht nicht auf ein Abbiegen vertrauen,

  • so dass bei der Haftungsverteilung gemäß § 17 Abs. 1 und Abs. 2 Straßenverkehrsgesetz (StVG) zu seinen Lasten die Vorfahrtspflichtverletzung gem. § 8 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) zu berücksichtigen ist.

Der Vorfahrtsberechtigte haftet für die Unfallfolgen in einem solchen Fall jedoch deshalb mit, weil,

  • wer als Vorfahrtsberechtigter vor einer Kreuzung rechts blinkt und gerade aus fährt,

einen Verkehrsverstoß gemäß § 1 Abs. 2 StVO (irreführendes Blinken) begeht.

In dem der Entscheidung zugrunde liegendem Fall ist vom AG auf eine Mithaftung des Vorfahrtsberechtigten in Höhe von 1/3 erkannt worden.

Wann spricht der Anscheinsbeweis gegen einen nach rechts in eine bevorrechtigte Straße einfahrenden Wartepflichtigen?

Gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) darf ein Wartepflichtiger nur in eine vorfahrtsberechtigte Straße einfahren,

  • wenn dadurch Vorfahrtsberechtigte weder gefährdet noch wesentlich behindert werden,
  • wobei sich die Pflichten nach § 8 Abs. 2 StVO nicht nur auf das sog. Einmündungsviereck erstecken, sondern darüber hinaus
    • auch auf den Bereich, in dem sich die Fahrlinien der Fahrzeuge kreuzen, berühren oder bedrohlich nähern und
    • Vorfahrtsberechtigte dadurch in ihrer Weiterfahrt behindert werden können.

Kein Anscheinsbeweis spricht gegen einen Wartepflichtigen, der aus einer untergeordneten Straße nach rechts in eine bevorrechtigte Straße einbiegt und in dem durch die Vorfahrt geschützten Bereich mit einem (von rechts kommenden) vorfahrtsberechtigten Fahrzeug zusammenstößt dann,

  • wenn die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass der Wartepflichtige den Bevorrechtigten auch bei der nach § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO gebotenen größten Sorgfalt nicht hätte wahrnehmen können,

da die bloße Möglichkeit, dass auf der Vorfahrtstraße ein anderes Kraftfahrzeug herannahen könnte, noch keine Wartepflicht auslöst und demzufolge ein Wartepflichtiger das Vorfahrtsrecht eines herannahenden Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten hat,

  • wenn das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem er mit dem Einfahren beginnt, bereits sichtbar ist,

Ebenfalls kein Raum für einen Anscheinsbeweis nach § 8 StVO ist, wenn für den nach rechts in die Vorfahrtsstraße einbiegenden Wartepflichtigen,

  • beim Beginn des Einbiegens sich nicht nur von links keine Fahrzeuge näherten,
  • sondern auch die für ihn rechte Straßenseite frei war und
  • keine Anzeichen dafür sprachen, dass eines der sich auf der bevorrechtigten Straße von rechts nähernden Fahrzeuge die Fahrbahnseite wechseln wird,

weil ein Wartepflichtiger in einem solchen Fall grundsätzlich davon ausgehen darf, dass er keinen der vorfahrtberechtigten Fahrer in der Weiterfahrt behindern wird.

Allerdings spricht der Anscheinsbeweis nach § 8 StVO gegen einen nach rechts in die Vorfahrtsstraße einbiegenden Wartepflichtigen dann,

  • wenn im Hinblick auf bestehende Örtlichkeiten – etwa der relativ geringen Straßenbreite, dem Fehlen einer Mittellinie, von beidseits geparkten Fahrzeugen usw. –

der Wartepflichtige nicht darauf vertrauen konnte, dass die Fahrspur der bevorrechtigten Straße, auf die er einzufahren beabsichtigt, frei ist sowie auch frei bleibt,

  • weil er in einem solchen Fall nicht darauf vertrauen darf, dass er, ohne den Gegenverkehr zu behindern oder zu gefährden, in die vorfahrtsberechtigte Straße wird einfahren können.

Darauf hat die 13. Zivilkammer des Landgerichts (LG) Saarbrücken mit Urteil vom 29.04.2016 – 13 S 3/16 – hingewiesen.

Haftet Wartepflichtiger, der einem schneller als erlaubt Fahrenden die Vorfahrt nimmt, bei Unfall mit?

Kommt es zu einem Unfall, weil

  • der auf der bevorrechtigten Straße fahrende Fahrzeugführer vor dem Zusammenstoß die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich überschritten und
  • ein anderer, von einer untergeordneten Straße kommender und wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit des Vorfahrtsberechtigten falsch eingeschätzt und geglaubt hat, es noch vor diesem über die Straße zu schaffen,

kann die Geschwindigkeitsüberschreitung des Vorfahrtsberechtigten in der Regel nicht dessen alleinige Haftung rechtfertigen.

Darauf hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 23.02.2016 – 9 U 43/15 – hingewiesen und in einem Fall, in dem

  • ein vorfahrsberechtigter, statt zulässiger 50 km/h, 121 km/h schnell fahrender Motorradfahrer mit einem ca. 250 m vor ihm aus einer rechtsseitig gelegenen, untergeordneten Autobahnabfahrt nach links abbiegenden Pkw-Fahrer zusammengestoßen war,

auf eine Haftungsverteilung von 30 % zu 70 % zu Lasten des vorfahrtsberechtigten Motoradfahrers erkannt.

Dass der Motorradfahrer wegen seines überwiegenden Verschuldens nicht allein haftet, sondern in diesem Fall eine 30 %ige Haftung des Pkw-Fahrers für das Unfallgeschehen gerechtfertigt ist, hat der Senat damit begründet, dass

  • zwar auf Seiten des Motorradfahrers die unfallursächliche, massive Tempoüberschreitung zu berücksichtigen sei,
  • aber auch auf Seiten des Pkw-Fahrers ein schuldhaftes Verhalten deshalb vorliege, weil
    • das herannahende Motorrad für den Pkw-Fahrer bei Beginn des Abbiegevorgangs zu sehen gewesen sei und
    • er bei ausreichender Beobachtung die erhebliche Geschwindigkeit des Motorrads hätte erkennen können sowie demzufolge zuwarten müssen.

Abgesehen davon hätte der Pkw-Fahrer auch keinesfalls, wie in dem der Entscheidung zugrunde liegendem Fall geschehen,

  • langsam und mit nur geringer Beschleunigung abbiegen dürfen,
  • sondern – wenn überhaupt – zügig anfahren müssen.

In beiden dieser Fälle,

  • beim Zuwarten und
  • laut Angaben des vom Senat befragten Sachverständigen, auch beim zügigen Abbiegen,

wäre der Zusammenstoß vermieden worden (Quelle: Pressemitteilung des OLG Hamm vom 24.06.2016).