Die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat mit Beschluss vom 27.02.2014 – 2 BvR 261/14 – der Strafkammer eines Landgerichts (LG) im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache die Vernehmung einer Zeugin untersagt, sofern diese Vernehmung nicht audiovisuell durchgeführt wird.
Bei der audiovisuellen Zeugenvernehmung wird die Aussage aus einem anderen Raum zeitgleich in Bild und Ton in den Sitzungssaal übertragen.
In dem der Entscheidung zugrunde liegendem Fall ist die Beschwerdeführerin in einem Strafverfahren vor einem LG als Zeugin geladen.
In dem Strafverfahren wird dem Angeklagten vorgeworfen, Frauen in mehreren Fällen – auch der Beschwerdeführerin – bei Verabredungen heimlich bewusstseinstrübende Substanzen in ihre Getränke gemischt und mit den Geschädigten unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit den Geschlechtsverkehr vollzogen zu haben. Der Angeklagte streitet die Vorwürfe ab und behauptet, der Geschlechtsverkehr sei jeweils einvernehmlich erfolgt.
Die Beschwerdeführerin hatte beantragt, die Zeugenvernehmung gemäß § 247a Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) audiovisuell durchzuführen, da anderenfalls die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihr psychisches Wohl bestehe. Sie habe das Geschehen verdrängt und einem emotionalen Zugang verschlossen. Bereits die Zeugenvernehmung durch die Polizei habe ihr Leben „aus den Bahnen“ geworfen. Erste therapeutische Fortschritte seien gefährdet, wenn sie erneut mit dem Angeklagten im selben Raum konfrontiert werde oder in der Atmosphäre einer Hauptverhandlung – selbst bei Ausschluss der Öffentlichkeit – das angeklagte Tatgeschehen in unmittelbarer Gegenwart der im Strafverfahren notwendig Anwesenden schildern müsse. Dies komme einem erneuten Durchleben der Tat mit Zuschauern gleich. In beiden Fällen sei nach Einschätzung der behandelnden Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit hoher Wahrscheinlichkeit eine längerfristige seelische Destabilisierung oder gar eine Retraumatisierung zu befürchten. Dieser Nachteil sei schwerwiegend, da er bei weitem über die vorübergehenden seelischen oder körperlichen Belastungen hinausreiche, die gewöhnlich mit einer Zeugeneinvernahme in einer Hauptverhandlung verbunden und durch den Zeugen hinzunehmen seien.
Das LG lehnte den Antrag u. a. mit der Begründung ab, das Gericht sei auf der Grundlage der vorgelegten Befundbericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die spezifische Belastung der Beschwerdeführerin auch durch andere Maßnahmen abgemildert werden könne, namentlich durch den Ausschluss der Öffentlichkeit, die Begleitung durch eine Vertrauensperson, die Anwesenheit der Nebenklägervertreterin, die Vermeidung einer unmittelbaren Konfrontation mit dem Angeklagten durch zeitversetzte Vorführung des Angeklagten und dessen Platzierung außerhalb des Sichtfelds der Beschwerdeführerin, durch eine möglichst schonende Vernehmung sowie durch eine vorherige Besichtigung des Gerichtssaals in Begleitung einer Vertrauensperson, um sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass es im Rahmen einer persönlichen Vernehmung für das Gericht leichter sei, Signale, die auf eine übermäßige Belastung hindeuteten, wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren.
Die Beschwerdeführerin hat hiergegen Verfassungsbeschwerde erhoben und diese mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden. Sie rügt eine Verletzung ihres Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG)) sowie einen Verstoß gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) durch die Entscheidung des LG.
Die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat den Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für zulässig und begründet erachtet.
Nach § 32 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) kann das BVerfG im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang muss das BVerfG die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht von vornherein unzulässig. Insbesondere steht ihrer Zulässigkeit im konkreten Einzelfall nicht entgegen, dass es sich für den Angeklagten bei der Entscheidung über die Ablehnung der audiovisuellen Vernehmungsform um eine strafprozessuale Zwischenentscheidung handelt.
Verfassungsbeschwerden gegen strafprozessuale, der Beschwerde entzogene Zwischenentscheidungen sind grundsätzlich ausgeschlossen. Die isolierte Anfechtbarkeit einer Zwischenentscheidung kommt nur in Betracht, wenn diese einen bleibenden rechtlichen Nachteil für den Betroffenen zur Folge hat, der sich später gar nicht oder nicht vollständig beheben lässt (vgl. BVerfGE 101, 106). Dies ist namentlich der Fall, wenn der Betroffene etwaige durch die Zwischenentscheidung bewirkte Grundrechtsverletzungen nicht mit der Anfechtung der Endentscheidung im fachgerichtlichen Verfahren rügen kann oder ihm die Verweisung auf den fachgerichtlichen Rechtsschutz nicht zuzumuten ist.
Danach kann die Beschwerdeführerin hier nicht auf eine vorrangige Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtsschutzes verwiesen werden.
Nach herrschender Auffassung ist gemäß § 247a Abs. 1 S. 2 StPO nicht nur die Anordnung, sondern auch die Ablehnung der Anordnung einer audiovisuellen Vernehmung unanfechtbar. Unter den gegebenen Umständen ist daher der Beschwerdeführerin der Versuch, vorrangig fachgerichtlichen Eilrechtsschutz in Anspruch zu nehmen, nicht zumutbar.
Ob im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Justizgewährleistungsanspruch desjenigen, der sich als Zeuge durch die Ablehnung der Anordnung einer audiovisuellen Vernehmung in einem Grundrecht verletzt sieht und dem insoweit effektiver Rechtsschutz durch die Endentscheidung nicht zur Verfügung steht, § 247a Abs. 1 Satz 2 StPO verfassungskonform dahin ausgelegt werden kann und muss, dass die Vorschrift nur einer Beschwerde gegen die Anordnung, nicht aber einer Beschwerde gegen die Ablehnung der Anordnung einer solchen Vernehmung entgegensteht, entzieht sich einer Klärung im Verfahren nach § 32 BVerfGG.
Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet.
Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das LG Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Beschwerdeführerin auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) verkannt hat.
Bei der Entscheidung über einen Antrag auf audiovisuelle Vernehmung gemäß § 247a Abs. 1 StPO handelt es sich um eine Entscheidung, die das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen hat. Hierbei hat das Gericht im Rahmen seines Rechtsfolgeermessens die wechselseitigen Interessen aller Verfahrensbeteiligten zu berücksichtigen. Schließen die konfligierenden Interessen einander aus, hat das Gericht diese gegeneinander abzuwägen und miteinander in Ausgleich zu bringen.
Vorliegend spricht vieles dafür, dass das LG seine Abwägungsentscheidung zu Gunsten der Interessen des Angeklagten und der Strafrechtspflege getroffen hat, ohne das entgegenstehende Interesse der Beschwerdeführerin überhaupt zuverlässig gewichten zu können.
Angesichts der konkreten Anhaltspunkte für eine posttraumatische Belastungsstörung der Beschwerdeführerin in Gestalt des vorliegenden ärztlichen Befundberichts, in welchen ausdrücklich auf die im Falle der unmittelbaren Vernehmung bestehende Gefahr der „längerfristigen seelischen Destabilisierung“ hingewiesen worden ist, hätte sich das LG möglicherweise nicht mehr darauf beschränken dürfen, auf die nach seiner Auffassung nicht eindeutig festgestellte Gefahr für die seelische Gesundheit der Beschwerdeführerin zu verweisen. Die Annahme liegt nicht fern, dass das Gericht gehalten war, durch ergänzende Befragung der behandelnden Ärztin oder Zuziehung eines Sachverständigen unter Berücksichtigung der individuellen Belastbarkeit der Beschwerdeführerin bestehende Zweifel über das Gewicht der für die Gesundheit der Beschwerdeführerin drohenden Nachteile und den Grad der Gefahr ihrer Verwirklichung auszuräumen, um seine Ermessensentscheidung in Abwägung der widerstreitenden Interessen auf der notwendigen Tatsachengrundlage vornehmen zu können.
Auch der gerügte Verstoß gegen das Verbot objektiver Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG) erscheint nach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht offensichtlich ausgeschlossen. Sollte die unzureichende Ausstattung des Gerichts mit Sachmitteln bei der gerichtlichen Ablehnung der von ihr beantragten Anwendung eines strafprozessualen Instituts, das – wie § 247a Abs. 1 StPO – dem Schutz ihrer grundrechtlich geschützten Interessen dient, ermessenslenkend eingewirkt haben, läge hierin eine sachfremde Erwägung, die unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar wäre, ohne dass es auf ein schuldhaftes Handeln des Gerichts ankäme. Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde stellen sich – abhängig von den konkreten Umständen – insoweit als offen dar.
Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Vernehmung der Beschwerdeführerin in Anwesenheit des Angeklagten und der notwendig Anwesenden in der Zwischenzeit vollzogen werden. In diesem Fall bestünde nach Einschätzung der behandelnden Ärztin die dringende Gefahr einer seelischen Destabilisierung oder Retraumatisierung der Beschwerdeführerin mit nicht abschätzbaren Folgen für ihre weitere psychische Entwicklung. Der hiermit verbundene Eingriff in das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wiegt daher mit hoher Wahrscheinlichkeit schwer und kann nicht durch eine spätere Feststellung der Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Hoheitsakts rückgängig gemacht werden.
Gegenüber dieser Gefahr einer irreparablen Rechtsbeeinträchtigung wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber keinen Erfolg hätte, weniger schwer. Zwar müsste in diesem Fall die Beschwerdeführerin ihrer Pflicht zur Zeugenaussage unter den vom Gericht bestimmten Bedingungen bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht nachkommen. Es ist aber nicht ersichtlich, dass wegen dieser Verzögerung ein überwiegender Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre, zumal dem Gericht unbenommen bleibt, die Zeugenvernehmung der Beschwerdeführerin gemäß § 247a Abs. 1 StPO audiovisuell durchzuführen. Zur Vermeidung des Eintritts strafprozessual relevanter Verzögerungen kommt zudem eine Abtrennung des Verfahrens in Betracht, soweit das Tatgeschehen zu Lasten der Beschwerdeführerin Anklagegegenstand ist.