Die Verhängung einer kurzzeitigen Freiheitsstrafe jenseits des gesetzlichen Mindestmaßes von einem Monat kann auch bei einer Diebstahlstat mit nur bagatellhaftem Schaden bei einem erheblich vorbestraften Täter noch schuldangemessen sein.
Das hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 21.10.2014 – 1 RVs 82/14 – entschieden und einen 46 Jahre alten, alkoholkranken und wegen Diebstahls bereits in erheblichem Umfang vorbestraften Angeklagten, der in einem Lebensmittelmarkt eine Flasche Wodka zum Preis von 4,99 Euro entwendet hatte, dessen Schuldfähigkeit zur Tatzeit auf Grund vorausgegangenen Alkoholgenusses erheblich vermindert und der im Strafverfahren geständig war, wegen dieses Diebstahls nach § 242 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat und einer Woche (ohne Bewährung) verurteilt.
Nach Auffassung des 1. Strafsenats des OLG Hamm, die von anderen Oberlandesgerichten geteilt wird und auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) so anerkannt worden ist, können auch bei Bagatellstraftaten kurzzeitige, auch vollstreckbare Freiheitsstrafe i.S.v. § 47 StGB verhängt werden (OLG Hamm, Beschlüsse vom 06.03.2014 – III 1 RVs 10/14 und vom 03.12.2013 – 1 RVs 90/13 –; OLG Brandenburg, Beschluss vom 13.07.2009 – 1 Ss 48/09 –; OLG Braunschweig, Beschluss vom 25.10.2001 – 1 Ss 52/01 –; OLG Celle, Beschluss vom 18.08.2003 – 22 Ss 101/03 –; OLG Dresden, Beschluss vom 21.07.2014 – 2 OLG 21 Ss 319/14 –; OLG München, Beschluss vom 10.08.2009 – 5 St RR 201/09 –; OLG Naumburg, Beschluss vom 28.06.2011 – 2 Ss 68/11 –; BVerfG, Beschluss vom 09.06.1994 – 2 BvR 710/94 –). Liegen zahlreiche, überwiegend einschlägige Vorstrafen vor und hat ein Täter sich bisher weder von Geldstrafen noch von Bewährungsstrafen noch von der Vollstreckung – kurzzeitiger – Freiheitsstrafen von der Begehung einer neuerlichen Tat abhalten lassen, ist die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe im Sinne des § 47 StGB danach sogar naheliegend.
Allerdings ist, worauf der 1. Strafsenat des OLG Hamm hingewiesen hat, in der obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung die Frage umstritten, inwieweit bei Bagatellschäden eine Freiheitsstrafe jenseits des gesetzlichen Mindestmaßes von einem Monat verhängt werden darf.
- So hat das OLG Braunschweig (Beschluss vom 25.10.2001 – 1 Ss 52/01 –) im Fall des Diebstahls einer Schachtel Zigaretten durch einen mehrfach vorbestraften Täter die Verhängung einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten für „schlechthin unangemessen“ erachtet.
- Das OLG Stuttgart, Beschluss vom 09.02.2006 – 1 Ss 575/05 – sah eine Freiheitsstrafe von zwei Monaten für eine Freifahrterschleichung mit einer Schadenssumme von 1,65 Euro „ohne Rücksicht auf die strafrechtliche Vergangenheit eines Angeklagten“ als „unverhältnismäßig und nicht mehr vertretbar“ an.
- Das OLG Oldenburg (Beschluss vom 28.07.2008 – Ss 266/08 –) hat bei einem Diebstahl von Lebensmitteln im Wert von fünf Euro eine über dem gesetzlichen Mindestmaß liegende Freiheitsstrafe ebenfalls für „schlechthin unangemessen“ erachtet und die Regel aufgestellt, dass eine Freiheitsstrafe über dem gesetzlichen Mindestmaß nur dann in Betracht kommt, wenn der Wert der Tatbeute über einem Drittel der Geringwertigkeitsgrenze von (seinerzeit) 30 Euro, also über 10 Euro liege.
Begründet wurde dies mit der Strafpraxis in anderen Fällen, in denen Wirtschaftskriminelle, die Schäden in Millionenhöhe angerichtet hätten, häufig zu Bewährungsstrafen verurteilt würden und dazu dann die Relation der Strafen bei Bagatelldelikten nicht mehr passen würde.
- Andere obergerichtliche Entscheidungen heben hervor, dass das in § 38 Abs. 2 StGB festgesetzte Mindestmaß von einem Monat im Vergleich zu einer nach dem Gesetz grundsätzlich primär vorgesehenen Festsetzung einer Geldstrafe das insoweit durch § 40 Abs. 1 S. 2 StGB festgelegte gesetzliche Mindeststrafmaß von 5 Tagessätzen Geldstrafe bereits deutlich übersteigt und auch die gewählte Sanktionsart für sich genommen eine erheblich belastendere Beschwer darstellt (OLG Hamm, Beschluss vom 03.12.2013 – 1 RVs 90/13 –; OLG Dresden, Beschluss vom 21.07. 2014 – 2 OLG 21 Ss 319/14 –).
Im Übrigen ist die obergerichtliche Rechtsprechung sehr einzelfallbezogen und sehr uneinheitlich, ab wann eine Freiheitsstrafe jenseits des gesetzlichen Mindestmaßes nicht mehr schuldangemessen sein soll.
- So hat das OLG Nürnberg (Beschluss vom 25.10.2005 – 2 St OLG Ss 150/05 –) eine Freiheitsstrafe von einem Monat und zwei Wochen in einem (offenbar) Fall eines „absolut geringwertigen Diebstahls“ unbeanstandet gelassen.
- Das OLG Jena (Beschluss vom 27.04.2006 – 1 Ss 238/05 –) hat in einem Fall eines „Ladendiebstahls mit sehr geringem Beutewert“ auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin die Verurteilung des Angeklagten zu einer Geldstrafe aufgehoben und die Sache insoweit zurückverwiesen und auf die wegen des Verschlechterungsverbots (der Angeklagte war in erster Instanz noch zu einer viermonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden) bestehende Strafobergrenze von vier Monaten Freiheitsstrafe hingewiesen, also durchaus eine mehrmonatige Freiheitsstrafe für möglich erachtet.
Der 1. Strafsenat des OLG Hamm hält grundsätzlich die Verhängung einer Freiheitsstrafe auch jenseits des gesetzlichen Mindestmaßes bei Diebstahlstaten mit bagatellartigen Schäden für rechtlich zulässig.
Zur Begründung hat der Senat auf das BVerfG verwiesen, das im Kammerbeschluss vom 09.06.1994 – 2 BvR 710/94 – auch über dem gesetzlichen Mindestmaß liegende Freiheitsstrafen von (jeweils) zwei Monaten für Taten mit Bagatellschaden (konkret: 13,60 DM und 1,40 DM) aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht beanstandet und ausgeführt hat:
„Die verhängte Strafe übersteigt auch unter Berücksichtigung der geringen Schadenshöhe nicht die Schuld des Beschwerdeführers und verletzt somit nicht das Gebot schuldangemessenen Strafens aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Aus diesem Gebot ergibt sich nicht, dass die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 StGB erst ab einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht kommt. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen den Beschwerdeführer ist angesichts seiner vielfachen, überwiegend einschlägigen Vorstrafen nachvollziehbar, jedenfalls nicht sachfremd oder willkürlich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG.“
Der 1. Strafsenat des OLG Hamm folgert daraus, dass es also gerade nicht gegen das Gebot schuldangemessenen Strafens verstößt, wenn im Hinblick auf Vorstrafen auch bei geringen Schadenssummen vollstreckbare Freiheitsstrafen über dem gesetzlichen Mindestmaß verhängt werden. Vielmehr ist es einfachgesetzlich so, dass sich die Strafhöhe innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens gerade nicht nur nach der Schadenshöhe bestimmt. Diese ist nur eine unter vielen Strafzumessungsgesichtspunkten. Maßgebend ist hier die Vorschrift des § 46 StGB. Insoweit hat das OLG Jena (Urteil vom 27.04.2006 – 1 Ss 238/05) zutreffend ausgeführt:
„Der Strafrahmen des § 242 Abs. 1 StGB differenziert nicht nach dem Wert der Diebesbeute. Ob im Einzelfall eine Freiheitsstrafe verhängt wird, richtet sich allein nach den in § 46 StGB normierten Grundsätzen der Strafzumessung. Bei der Bestimmung der damit maßgeblichen Schuld i.S.d. § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB kann nicht limitierend einseitig auf den Wert der Tatbeute abgestellt werden. Komponenten der Schuld sind vielmehr alle diejenigen Faktoren, die den Grad des Vorwurfs bestimmen, der den Täter wegen seiner Tat trifft. Dazu gehören sowohl der Handlungsunwert als auch der Erfolgsunwert. Der Handlungsunwert wird u.a. bestimmt durch das Vorleben des Täters, insbesondere schon frühere – einschlägige – Straftaten und Missachtung von Warneffekten durch Vorstrafen. Der Erfolgsunwert wird mitbestimmt durch das Ausmaß des tatbestandsmäßigen Erfolges, hier den Wert der Diebesbeute. Die (personale) Handlungskomponente und die (tatbezogene) Erfolgskomponente der Strafzumessungsschuld können nicht getrennt betrachtet werden, sondern sind einer Gesamtwürdigung zu unterziehen, in der ein Weniger an Erfolgsunwert (hier: Beutewert) durch ein Mehr an Handlungsunwert (hier: beharrliche Nichtbeachtung diverser einschlägiger Strafen, Tatbegehung in laufender Bewährungszeit kurz nach letzter Verurteilung zu Freiheitsstrafe wegen gleichartiger Tat) ausgeglichen werden kann. Nach allem bilden die den gesetzlichen Straftatbestand erfüllenden Momente, darunter beim Erfolgsdelikt der Umfang des eingetretenen oder erstrebten Erfolges, nur einen Ausschnitt aus der Strafzumessungsschuld.“
Dementsprechend hält es der 1. Strafsenat des OLG Hamm schon für falsch, stets schon von „Bagatelltaten“ zu sprechen, nur weil der angerichtete Schaden oder die Beute objektiv gering geblieben sind; dies schon deshalb, weil sich das Ausmaß der Betroffenheit von einem eingetretenen Schaden maßgeblich auch an den konkreten persönlichen Verhältnissen des Geschädigten orientiert. Ob eine Tat eine Bagatelltat ist, richtet sich nach der gesetzlichen Regelung des § 46 StGB, welche eine umfassende Würdigung verschiedenster Umstände vorsieht und eben nicht bloß auf Beute oder Schadenshöhe abstellt und auch insoweit noch nicht einmal eine Rangordnung vorsieht (was sich schon daraus ergibt, dass die Aufzählung nicht abschließend ist – „namentlich“ – sondern nur Regelbeispielscharakter hat). Es kann daher bestenfalls von bagatellhaften Schäden einer Tat die Rede sein. Ob sich daraus aber auch die Einstufung als Bagatelltat ergibt, ist im Rahmen einer Gesamtschau zu entscheiden.
Auch hält der 1. Strafsenat des OLG Hamm das Argument des OLG Oldenburg (s.o.), das Gebot der Strafgleichheit verbiete eine höhere Freiheitsstrafe als einen Monat bei Bagatelltaten weil ansonsten die Relation zu Strafen bei schwerer Wirtschaftskriminalität nicht mehr gewahrt sei, für nicht durchgreifend.
Zum einen kann man, wie der 1. Strafsenat des OLG Hamm ausführt, schon fragen, warum das möglicherweise unangemessen milde Bestrafen schwerer Wirtschaftskriminalität Maßstab für alle anderen Strafbewertungen werden sollte. Weiter wird durch die alleinige Betrachtung der Schadenshöhe die Regelung des § 46 StGB nicht vollständig erfasst. „Bewährungsstrafen“ im Falle der schweren Wirtschaftskriminalität scheiden nämlich grundsätzlich ebenfalls meist aus, wenn der Täter bereits (mehrfach) vorbestraft ist. Schließlich ist die – zugegebenermaßen – dem Wirtschaftskriminellen günstigere Relation von Strafe zu angerichtetem Schaden und aufgewandter krimineller Energie zumindest teilweise Ausfluss bestimmter gesetzgeberischer Grundentscheidungen, die die Rechtsprechung aufgrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung nicht aushebeln kann.
So liegt die Strafobergrenze selbst bei einem herbeigeführten Vermögensverlust großen Ausmaßes im Falle des Betruges nur bei zehn Jahren (§ 263 Abs. 3 StGB). Bei der Höhe möglicher Schäden oder Beuten gibt es keine Obergrenze – beim Strafmaß schon. Immer wieder werden spektakuläre Vermögensschäden bekannt, die bisher bekannte Schadensausmaße in den Schatten stellen. Ob es rechtlich zutreffend ist, dass sich die Rechtsprechung diesen Gegebenheiten durch die Verhängung vergleichsweise milder werdender Strafen „anpasst“, bedarf hier keiner Beurteilung. Auch im Falle des Vorliegens einer Vielzahl von Einzeltaten verhindert die Regelung des § 54 Abs. 2 S. 2 StGB eine höhere Bestrafung als 15 Jahre Freiheitsstrafe, so dass auch hier der Intensivtäter, bei dem sich ab einem bestimmten Punkt weitere – auch schwere Taten – nicht mehr straferhöhend auswirken, letztlich einen Vorteil gegenüber dem Täter einer Einzeltat erlangt. Diesen Regelungen (in Verbindung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH), dass der Summe der Einzelstrafen bei der Gesamtstrafenbildung nach § 54 StGB nur geringes Gewicht zukommt, vgl. BGH, Beschluss vom 25.08.2010 – 1 StR 410/10 –) ist also immanent, dass der Täter, der sehr hohe Schäden anrichtet oder viele Straftaten begeht, die gleichzeitig abgeurteilt werden, proportional geringer bestraft wird, als ein Täter nur einer einzelnen Straftat mit eher geringem Schaden. Das zu ändern steht aber nicht der Rechtsprechung an. Hierzu ist allein der Gesetzgeber berufen.
Der Senat würde es als dem Gebot einer gleichen und gerechten Strafanwendung geradezu zuwiderlaufend ansehen, wenn der besonders unbelehrbare Täter, der schon vielfach bestraft wurde und Hafterfahrung hat, allein unter dem Gesichtspunkt eines bagatellhaften Schadens in keinem Fall mit einer höheren Freiheitsstrafe als einer solchen von einem Monat belegt werden könnte und damit dem Täter gleichgestellt würde, bei dem erstmals unter Anwendung der Regelung des § 47 StGB auf eine kurzzeitige Freiheitsstrafe von einem Monat bei einer Tat mit bagatellhaftem Schaden erkannt würde, wenn ansonsten vergleichbare Umstände vorlägen.
Beachtet dabei werden muss jedoch immer, dass bei der Bemessung der Strafe der Bereich schuldangemessenen Strafens nicht überschritten wird.
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