Tag Medizinrecht

Ärztliche Behandlung von Kindern bedarf grundsätzlich der Zustimmung beider sorgeberechtigter Eltern

Mit Urteil vom 29.09.2015 – 26 U 1/15 – hat der 26. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm darauf hingewiesen,

  • dass ein ärztlicher Heileingriff bei einem minderjährigen Kind grundsätzlich der Zustimmung beider sorgeberechtigter Eltern bedarf,
  • der Arzt aber, wenn nur ein Elternteil mit dem Kind bei ihm erscheint, in von der Rechtsprechung präzisierten Ausnahmefällen – abhängig von der Schwere des Eingriffs – darauf vertrauen darf, dass der abwesende Elternteil den erschienenen Elternteil zur Einwilligung in den ärztlichen Eingriff ermächtigt hat.

 

Danach darf der Arzt

  • in Routinefällen (Ausnahmefall 1) – bis zum Vorliegen entgegenstehender Umstände –

 

davon ausgehen,

  • dass der mit dem Kind bei ihm erscheinende Elternteil die Einwilligung in die ärztliche Behandlung für den anderen Elternteil miterteilen darf.

 

Handelt es sich

  • um ärztliche Eingriffe schwerer Art mit nicht unbedeutenden Risiken (Ausnahmefall 2),

 

muss sich der Arzt vergewissern, ob der erschienene Elternteil die Ermächtigung des anderen Elternteils hat und wie weit diese reicht,

  • wobei er aber – bis zum Vorliegen entgegenstehender Umstände – davon ausgehen darf, vom erschienenen Elternteil eine wahrheitsgemäße Auskunft zu erhalten.

 

Geht es um

  • schwierige und weitreichende Entscheidungen über die Behandlung des Kindes (Ausnahmefall 3), etwa um eine Herzoperation, die mit erheblichen Risiken für das Kind verbunden sind,

 

muss sich der Arzt vergewissern, dass der abwesende Elternteil mit der Behandlung einverstanden ist,

  • weil in diesen Fällen eine Ermächtigung des abwesenden Elternteils zur Einwilligung in den ärztlichen Eingriff durch den anwesenden Elternteil nicht von vornherein naheliegt.

 

Das hat die Pressestelle des Oberlandesgerichts Hamm am 16.11.2015 mitgeteilt.

 

Hirnhautentzündung bei Kind zu spät erkannt

Weil von einem Pfleger des beklagten Krankenhauses bei einem am Nachmittag mit Schüttelfrost und hohem Fieber eingelieferten, fünf Jahre alten Jungen

  • kein Handlungsbedarf gesehen worden war, als sich bei diesem gegen 4.00 Uhr nachts die Infusionsnadel gelöst und am Körper ungewöhnliche Hautverfärbungen gezeigt hatten,
  • aufgrund dessen die bei dem Jungen vorliegende Hirnhautentzündung zu spät erkannt und die diesbezügliche Notfallversorgung verspätet eingeleitet worden war,

 

muss das Krankenhaus an den Jungen Schadensersatz und Schmerzensgeld zahlen.

Das hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Oldenburg mit Urteil vom 28.10.2015 – 5 U 156/13 – entschieden.

Danach ist es als grober Behandlungsfehler anzusehen, dass der Pfleger, trotz der für ihn sichtbaren Hautverfärbungen und des erkannten Zustandes des Fünfjährigen, keinen Arzt hinzugezogen hat.
Es hätte nämlich umgehend mit einer Notfalltherapie begonnen werden müssen.  
Da, wenn dies geschehen wäre, bei dem Jungen, dem in der Folgezeit beide Unterschenkel amputiert sowie zahlreiche Haut- und Muskeltransplantationen durchgeführt werden mussten und der bis heute einen Ganzkörperkompressionsanzug sowie eine Kopf- und Gesichtsmaske tragen muss, um eine wulstige Narbenbildung zu vermeiden, in jedem Fall ein besseres Ergebnis erzielt worden wäre, haftet das Krankenhaus für den jetzigen Gesundheitszustand des Jungen.

Über die Höhe des Schmerzensgeldes und der Schadensersatzansprüche, der Junge, vertreten durch seine Eltern, hat u.a. Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 350.000,- € verlangt, hat nunmehr das Landgericht (LG) zu befinden.

Das hat die Pressestelle des Oberlandesgerichts Oldenburg am 09.11.2015 mitgeteilt.

 

Hygienemängel im Krankenhaus

Trägt ein Krankenhauspfleger bei der Eröffnung eine Abszedierung an der Hand einer Patientin Handschuhe, mit denen er zuvor die Türklinke des Krankenzimmers berührt und die er dadurch kontaminiert hatte,

  • stellt dies zwar einen Hygienemangel dar,
  • der jedoch, weil dieser Verstoß gegen den medizinischen Standard nicht als grob zu bewerten ist, zu keiner Beweislastumkehr führt,
  • so dass ein solcher Hygienemangel nur dann eine Haftung des Krankenhauses begründet, wenn die Patientin nachweisen kann, dass ihr durch den Hygienemangel ein Gesundheitsschaden entstanden ist.

 

Das hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 17.08.2015 – 3 U 28/15 – entschieden und in einem Fall,

  • in dem ein Krankenhauspfleger beim Eröffnen der Abszedierung an der Hand der Klägerin Handschuhe getragen hatte, die infolge des Anfassens der Türklinke bereits als kontaminiert anzusehen waren,
  • die Klage der Klägerin auf Schadensersatz und Zahlung eines Schmerzensgeldes von 25.000 Euro abgewiesen, weil die Klägerin nicht hatte nachweisen können, dass (erst) beim Eröffnen der Abszedierung Erreger in ihren Körper gelangt seien, die dann zu einer Entzündungsreaktion und in deren Folge zu der Spondylodiszitis geführt haben.

 

In seiner Entscheidung hat der sachverständig beratene 3. Zivilsenat des OLG Hamm darauf hingewiesen,   

  • dass nicht jeder Verstoß gegen den medizinischen Hygienestandard einen groben Behandlungsfehler darstellt,
  • dass ein Hygieneverstoß umso schwerer wiegt und umso unverständlicher ist, je höher das Infektionsrisiko und je gravierender die Folgen einer möglichen Infektion sein könnten,
  • dass aus klinischer Sicht hinsichtlich der einzuhaltenden hygienischen Anforderungen in 4 Risikogruppen unterteilt sowie dementsprechend danach differenziert wird, in welche Risikogruppe die Tätigkeit fällt, die unter Verletzung des hygienischen Standards vorgenommen worden ist,
  • die Tätigkeit in dem der Entscheidung zugrunde liegendem Fall deswegen der untersten Risikogruppe zuzuordnen ist, weil es sowohl unwahrscheinlich ist, dass gegen den bei der Eröffnung eines Abszesses ausströmenden Eiter etwas in die Wunde gelangt, als auch, dass es gravierende Folgen nach sich zieht, wenn die – von vornherein nur bakterienarmen, nicht sterilen – Handschuhe durch das Berühren der Türklinke zusätzlich kontaminiert worden sind

 

und bei dieser Sachlage der festgestellte Hygienemangel somit keinen groben Verstoß gegen medizinische Standards darstellt.

Das hat die Pressestelle des Oberlandesgerichts Hamm am 29.09.2015 mitgeteilt.

 

Reichweite und Umfang der ärztlichen Auskunftspflicht nach § 630c Abs. 2 S. 2 BGB

§ 630 c Abs 2 S 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB),

  • nach dem der behandelnde Arzt, wenn für ihn Umstände erkennbar sind, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, den Patienten über diese auf Nachfrage oder zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren zu informieren hat,
  • gewährt dem Patienten u.U. auch einen Anspruch auf eine Erklärung des Behandlers, dass für ihn keine Umstände erkennbar sind, welche die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen können (sog. Negativauskunft).

 

Darauf hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Oldenburg mit Beschluss vom 25.08.2015 – 5 W 35/15 – in einem Fall hingewiesen, in dem

  • von dem Beklagten, der als behandelnder Arzt die per Kaiserschnitt erfolgte Geburt der Klägerin geleitet hatte, einen Tag später bei der Klägerin eine Fermurfraktur sowie eine Verletzung des Fermurs links diagnostiziert worden war,
  • die Klägerin, vertreten durch ihre Eltern, daraufhin den Beklagten unter Berufung auf § 630c BGB um Mitteilung gebeten hatte, ob der von einem Behandlungsfehler ausgehe und
  • der Beklagte, weil er auf dieses Auskunftsbegehren nicht reagierte hatte, von der Klägerin auf Auskunftserteilung verklagt worden war, inwieweit für ihn Umstände erkennbar sind, die die Annahme eines Behandlungsfehlers im Zusammenhang mit ihrer Geburt begründen.

 

Nach dieser Entscheidung des 5. Zivilsenats des OLG Oldenburg umfasst die Auskunftspflicht aus § 630c Abs. 2 S. 2 BGB auch die Mitteilung an den nachfragenden Patienten, dass für den Behandelnden keine behandlungsfehlerbegründende Umstände erkennbar sind.

  • Zwar erwecke, wie der Senat ausgeführt hat, der Wortlaut der Vorschrift den Eindruck, dass eine Auskunftspflicht erst durch das Vorliegen derartiger Umstände ausgelöst wird. Dies sei jedoch nur zutreffend, soweit es um die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Offenbarung der behandlungsfehlerbegründenden Umstände geht.
  • Daneben begründe § 630c Abs. 2 S. 2 BGB einen Anspruch des Patienten, auf Nachfrage auch entsprechend informiert zu werden, falls der Behandelnde keine Anhaltspunkte für Behandlungsfehler hat.

 

Diese Auskunft könne der Behandelnde, da es für die Erkennbarkeit der Umstände im Sinne von § 630c Abs. 2 S. 2 BGB auf sein subjektives Sonderwissen ankomme, auch ohne Recherchen erteilen.

Begründet hat der Senat seine Auffassung u.a. damit,

  • dass § 630c BGB durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20.02.2013 (BGBI. I, S. 277 ff.) eingeführt wurde,
  • es das erklärte Ziel dieses Gesetzes war, die Rechte von Patienten zu stärken und die Behandelnden und Patienten auf Augenhöhe zu bringen und
  • es mit diesem Zweck nicht vereinbar wäre, wenn die Behandelnden die Nachfrage des Patienten im Sinne von § 630c Abs. 2 S. 2 BGB, ob für ihn Umstände erkennbar sind, die einen Behandlungsfehler begründen, einfach unbeantwortet lassen könnten, da der Patient dann nicht erkennen könnte, ob auf seine Nachfrage nur deshalb nicht reagiert worden ist, weil der Behandelnde keine Anhaltspunkte für einen Behandlungsfehler hat, oder ob ihm sehr wohl behandlungsfehlerbegründende Umstände bekannt sind, er sie aber nicht preisgeben möchte.

 

Wenn Patient nach Befunderhebungsfehler beide Nieren verliert

Eine jugendliche Patientin, die nach einem groben Befunderhebungsfehler ihrer Hausärztin beide Nieren verloren hat, dialysepflichtig geworden ist und 53 Folgeoperationen, darunter zwei erfolglosen Nierentransplantationen ausgesetzt war, erhält 200.000 Euro Schmerzensgeld.

Das hat der 26. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 03.07.2015 – 26 U 104/14 – entschieden.

In dem der Entscheidung zugrunde liegendem Fall waren bei der Klägerin beiderseitige Schrumpfnieren diagnostiziert worden,

  • nachdem die damals fünfzehn Jahre alte Klägerin bei ihrer beklagten Hausärztin wegen krankhafter Fettsucht und Nikotinmissbrauch in Behandlung war,
  • die Beklagte bei der Klägerin einen deutlich erhöhten Blutdruck festgestellt, die Klägerin und ihre Mutter darauf hin lediglich auf eine notwendige Blutdruckkontrolle hingewiesen und
  • nachdem sie zwei Monate später erfahren hatte, dass die Klägerin, bei der wiederum erhöhte Blutdruckwerte vorlagen, aufgrund von Kreislaufproblemen viermal bewusstlos geworden war, eine Überweisung zum Internisten bzw. Kardiologen zur weiteren Diagnostik einer sekundären Hypertonie ausgestellt, selbst die Blut- und Nierenwerte der Klägerin aber nicht untersucht, sondern nur erneut regelmäßige Blutdruckkontrollen angeboten hatte, die von der Klägerin jedoch nicht wahrgenommen worden waren.

 

Der sachverständig beratene 26. Zivilsenat des OLG Hamm sah den Befunderhebungsfehler der Beklagten darin, dass diese nicht genug unternommen hatte, um die Ursache für den Bluthochdruck der Klägerin abzuklären.
Er war der Ansicht, dass der deutlich erhöhte Blutdruck ein krankhafter Befund gewesen sei, der durch weitere regelmäßige Blutdruckmessungen hätte abgeklärt werden müssen.
Der Beklagten sei vorzuwerfen, der Patientin und ihren Eltern nicht die hohe Dringlichkeit der weiteren Abklärung verdeutlicht und nach der erneuten Vorstellung der Patientin zwei Monate später eine weiterführende Diagnostik nicht stärker vorangetrieben oder selbst durchgeführt zu haben.
Wie der Senat weiter ausführte, hätten die mehrfachen Bewusstlosigkeiten und die wiederholt erhöhten Blutdruckwerte – trotz der weiteren Risikofaktoren der Klägerin – im Hinblick auf eine sekundäre Hypertonie zwingend weiter abgeklärt werden müssen.
Hierzu hätte es weiterer Blutdruckwerte bedurft, die seinerzeit nicht vorgelegen hätten.
Bei dieser Situation habe die bloße Überweisung der Klägerin zum Kardiologen ohne zwischenzeitliche eigenständige Diagnostik nicht ausgereicht.
Aus fachärztlicher Sicht eines Allgemeinmediziners sei sogar eine stationäre Abklärung erforderlich gewesen. Dieses hätte wiederum der Klägerin und ihren Eltern verdeutlicht werden müssen. Dass die Beklagte bei der gegebenen Situation diese elementar gebotenen diagnostischen Maßnahmen unterlassen habe, sei als grober Behandlungsfehler zu bewerten.

Aufgrund der mit dem groben Behandlungsfehler verbundenen Beweislastumkehr ging der Senat zugunsten der Klägerin davon aus, dass

  • ihre späteren Beeinträchtigungen der Nierenfunktion, insbesondere ihre Dialysepflicht, die zwei Nierentransplantationen mit insgesamt 53 Operationen auf die von der Beklagten zu vertretende zeitliche Verzögerung bei der Feststellung und Behandlung der Grunderkrankung zurückzuführen war und
  • bei einer früheren Diagnose der Nierenerkrankung der Klägerin eine – wenn auch geringe – Chance auf eine vollständige Heilung bestanden hätte.

 

Das hat die Pressestelle des Oberlandesgerichts Hamm am 19.08.2015 mitgeteilt.

 

Wenn Arzneimittel schädliche Wirkungen haben

Wer als Geschädigter ein pharmazeutisches Unternehmen wegen einer Nebenwirkung eines vertriebenen Arzneimittels gemäß § 84 des Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG) auf Zahlung von Schadensersatz und/oder Schmerzensgeld in Anspruch nehmen will, kann nach § 84a AMG von dem pharmazeutischen Unternehmen Auskunft über die diesem bekannten Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen sowie die ihm bekannt gewordenen Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Wechselwirkungen und sämtliche weiteren Erkenntnisse, die für die Bewertung der Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen von Bedeutung sind, verlangen. Dadurch soll der Geschädigte soll in die Lage versetzt werden, alle Fakten zu erlangen, die für die von ihm darzulegenden und zu beweisenden Anspruchsvoraussetzungen notwendig sind oder die er braucht, um die Kausalitätsvermutung des § 84 Abs. 2 AMG in Gang zu setzen (Bundesgerichtshof (BGH), Urteile vom 29.03.2011 – VI ZR 117/10 – und vom 26.03.2013 – VI ZR 109/12 –).

Der Auskunftsanspruch ist gegeben,

  • wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass ein Arzneimittel bei dem Anspruchsteller den Schaden verursacht hat,
  • es sei denn, die Auskunft ist zur Feststellung, ob ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 84 AMG besteht, nicht erforderlich (§ 84a Abs. 1 Satz 1 AMG).

 

Zur Begründung des Auskunftsanspruchs muss der Anspruchsteller nach § 84a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AMG nicht den Vollbeweis für den Kausalitätszusammenhang zwischen der Anwendung des Medikaments und dem Eintritt des Schadens führen; andererseits reicht die Äußerung des unbestimmten Verdachts, dass die Einnahme eines Medikaments für einen Gesundheitsschaden ursächlich geworden ist, zur Begründung des Auskunftsanspruchs nicht aus.
Andernfalls würde der Anspruch auf eine Ausforschung des Unternehmers hinauslaufen, was durch § 84a AMG nicht ermöglicht werden soll.

Die vom Anspruchsteller vorgetragenen und erforderlichenfalls zu beweisenden Tatsachen müssen nach dem Wortlaut des Gesetzes „die Annahme begründen“, dass durch die Anwendung des Arzneimittels die aufgetretene Gesundheitsbeeinträchtigung verursacht worden ist.
Dem Richter wird von § 84a Abs. 1 Satz 1 AMG eine Plausibilitätsprüfung aufgetragen, ob die vorgetragenen Tatsachen den Schluss auf eine Ursache/Wirkung-Beziehung zwischen dem vom auf Auskunft in Anspruch genommenen Unternehmer in Verkehr gebrachten Arzneimittel und dem individuellen Schaden des auskunftersuchenden Anwenders ergeben.

  • Wer nach § 84a Abs. 1 Satz 1 AMG Auskunft begehrt, muss nach Halbsatz 1 zunächst in einem ersten Schritt Tatsachen darlegen und gegebenenfalls beweisen, die eine solche Annahme begründen können.
  • Diese Tatsachen müssen sodann in einem zweiten Schritt die Ursächlichkeit des Arzneimittels für den Schaden des Anwenders plausibel erscheinen lassen.
    Das Erfordernis, dass die (Mit-)Verursachung des Schadens durch das Arzneimittel plausibel sein muss, stellt geringere Anforderungen an das Maß der Überzeugung des Tatrichters als der Vollbeweis.

 

Nicht Beweis erhoben werden muss im Auskunftsverfahren über Tatsachen, die den Inhalt des Auskunftsanspruchs betreffen und auf deren Kenntnis der Auskunftbegehrende zur Prüfung möglicher Ansprüche angewiesen ist. Eine Beweiserhebung zu Tatsachen, über die der Anspruchsteller erst durch Auskunftserteilung Klarheit erlangen soll, wäre mit Sinn und Zweck des § 84a AMG nicht vereinbar.
Es wäre ein Widerspruch, einerseits für den Anspruchsteller die plausible Darlegung der ernsthaften Möglichkeit der Schadensverursachung für ein begründetes Auskunftsbegehren ausreichen zu lassen; andererseits bei entsprechendem Bestreiten durch den Anspruchsgegner die Anspruchsvoraussetzungen des Schadensersatzanspruchs, bereits im Auskunftsverfahren unter umfänglicher Erhebung von Beweisen zu prüfen, um bei entsprechendem Beweisergebnis die Auskunftsklage abzuweisen.

Erforderlich ist die Auskunft im Sinne des § 84a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AMG bereits dann, wenn die Möglichkeit besteht, dass die begehrten Auskünfte der Feststellung eines Schadensersatzanspruchs dienen können.
Vermag hingegen die begehrte Auskunft die beweisrechtliche Situation des die Auskunft Begehrenden in Bezug auf einen solchen Schadensersatzanspruch offensichtlich nicht zu stärken, fehlt die Erforderlichkeit
Der Einwand der Nichterforderlichkeit der Auskunft, für die der pharmazeutische Unternehmer die volle Darlegungs- und Beweislast trägt, ist nur dann erheblich, wenn er gegen die Ansprüche nach beiden Alternativen des § 84 Abs. 1 Satz 2 AMG durchgreift.
Die Auskunft nach § 84a AMG dient nämlich nicht nur dazu, dem Geschädigten die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs aus § 84 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AMG zu ermöglichen. Der Anwendungsbereich des § 84a AMG erstreckt sich vielmehr auch auf die Vorbereitung von Ansprüchen aus § 84 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AMG.

Darauf hat der VI. Zivilsenat des BGH mit Urteil vom 12.05.2015 – VI ZR 328/11 – hingewiesen. 

 

Ärztlicher Diagnoseirrtum ist nicht immer gleich Diagnosefehler

Ein Arzt, der aus vollständig erhobenen Befunden einen falschen Schluss zieht, unterliegt einem – für sich allein noch nicht haftungsbegründenden – Diagnoseirrtum. Dieser stellt erst dann einen haftungsbegründenden Diagnosefehler dar, wenn die Diagnose im Zeitpunkt der medizinischen Behandlung aus der Sicht eines gewissenhaften Arztes medizinisch nicht vertretbar ist.

Das hat der 26. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 29.05.2015 – 26 U 2/13 – entschieden.

In dem der Entscheidung zugrunde liegendem Fall war die Klägerin, 2 Jahre nachdem der beklagte Gynäkologe ihr eine Spirale zur Empfängnisverhütung eingesetzt hatte, ungewollt schwanger geworden und hatte eine gesunde Tochter geboren.
Die Klägerin hatte darauf hin gegen den Beklagten

  • mit der Begründung, dass dieser im Rahmen der von ihm durchgeführten Ultraschallkontrolle eine bei ihr vorliegende Anomalie eines Uteres bicornis hätte bemerken und deswegen vom Einsetzen einer Spirale hätte absehen müssen, weil diese bei ihrer Anomalie zur Verhütung ungeeignet war,

 

Klage erhoben auf Schmerzensgeld von 5.000 Euro, Verdienstausfall von ca. 28.000 Euro und Ersatz von Unterhalts- und Betreuungsleistungen für ihre Tochter bis zum Eintritt der Volljährigkeit.

Die Klage wurde vom 26. Zivilsenat des OLG Hamm abgewiesen, weil

  • ein Behandlungsfehler nicht vorlag und
  • dem Beklagten auch weder ein Befunderhebungsfehler,
  • noch ein haftungsbegründender Diagnosefehler unterlaufen war, sondern lediglich ein vertretbarer, nicht haftungsbegründender Diagnoseirrtum.

 

Zur Begründung führte der Senat aus, dass ein Arzt, was die Befunderhebung betrifft, insoweit die Einhaltung des medizinischen Standards schuldet, also desjenigen Verhaltens, das von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Standard der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (vgl. etwa Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 15.04.2014 – VI ZR 382/12 –).
Diesen Anforderungen hatte das Vorgehen des Beklagten entsprochen. Er hatte nach den Feststellungen des vom Senat angehörten Sachverständigen alle Untersuchungen vorgenommen, die im Zusammenhang mit der Einlage eines Intrauterinpessars geboten waren, insbesondere neben Spiegelung und Sondierung eine sonographische Kontrolle.
Zu weitergehenden Untersuchungen war er nach dem medizinischen Standard im Zusammenhang mit einer Spiraleneinlage nicht verpflichtet gewesen.

Da Anhaltspunkte, die auf ein eventuelles Vorliegen einer Anomalie bei der Klägerin hindeuteten, fehlten, musste der Beklagte bei der Klägerin nach einer solchen Anomalie nicht fahnden, so dass ihm auch nicht vorgeworfen werden konnte, keine weitergehenden Untersuchungen vorgenommen zu haben, mit denen die Anomalie hätte erkannt werden können.

Ein haftungsbegründender Diagnosefehler lag ebenfalls nicht vor.
Denn, wie der Senat weiter ausführte, stellt das Ziehen eines falschen Schlusses aus den vollständig erhobenen Befunden für sich allein nur einen nicht haftungsbegründenden Diagnoseirrtum dar.
Ein haftungsbegründender Diagnosefehler liegt stattdessen erst vor, wenn die Diagnose für einen gewissenhaften Arzt bei ex-ante-Sicht medizinisch nicht vertretbar ist.
Hiervon war im vorliegenden Fall nach den Gutachten der Sachverständigen nicht auszugehen.
Danach war dem Beklagten nicht vorzuwerfen, dass er die Anomalie der Klägerin nicht erkannt und von einer regelhaften, nur einfachen Anlage ausgegangen ist.
Die bei der Klägerin vorliegende Anomalie ist nämlich nicht nur extrem selten, sondern wegen der in der Regel eng an der Seitenwand anliegenden trennenden Membran bei einer Spiegelung häufig gar nicht erkennbar.
Die Bewertung als regelhafte Genitale ist dann aber mangels Vorliegens anderweitiger Anhaltspunkte nicht zu beanstanden.

 

Schmerzensgeld nach verzögerter Tumorbehandlung

Verzögert ein grober Befunderhebungsfehler die Behandlung eines Tumors im Unterschenkel einer 23-jährigen Patientin, kann eine nach der Behandlung zurückbleibende dauerhafte Fuß- und Großzehenheberschwäche dem Behandlungsfehler zuzurechnen sein und ein Schmerzensgeld von 15.000 Euro rechtfertigen.

Das hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm mit Urteil vom 18.02.2015 – 3 U 166/13 – in einem Fall entschieden, in dem der beklagte Orthopäde einen behandlungsbedürftigen Tumor bei der Klägerin ca. 8 bis 9 Monate früher hätte erkennen, wenn von ihm damals schon eine kernspintomografische Untersuchung durchgeführt worden wäre.

In diesem Versäumnis sah der Senat einen groben Behandlungsfehler, der eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerin bewirkte, so dass zu ihren Gunsten davon auszugehen war, dass die vom Beklagten zu vertretene zeitliche Verzögerung bei der Behandlung des Tumors auch ursächlich war für die später eingetretene Fuß- und Großzehenheberschwäche.

Nach den Feststellungen des vom Senat gehörten Sachverständigen war der grobe Behandlungsfehler nämlich generell geeignet die Fuß- und Großzehenheberschwäche hervorzurufen, da die um ca. 8 bis 9 Monate verzögerte Behandlung und das Tumorwachstum in dieser Zeit die Voraussetzungen für eine erfolgreiche und komplikationsfreie Behandlung des Tumors verschlechtert hatten.

Den aufgrund der Beweislastumkehr zugunsten der Klägerin anzunehmenden Kausalzusammenhang hatte der Beklagte nicht widerlegen können.

Das hat die Pressestelle des Oberlandesgerichts Hamm am 17.06.2015 mitgeteilt.

 

Wenn wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers Anspruch auf Schmerzensgeld besteht.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes für einen ärztlichen Behandlungsfehler ist in erster Linie dessen Ausgleichsfunktion zu beachten.
Insoweit kommt es auf die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung an.

Maßgeblich sind Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychischen Beeinträchtigungen, wobei Leiden und Schmerzen wiederum durch die Art der Primärverletzung, die Zahl und Schwere der Operationen, die Dauer der stationären und der ambulanten Heilbehandlungen, den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit und die Höhe des Dauerschadens bestimmt werden.

Dabei muss die Entschädigung zu Art und Dauer der erlittenen Schäden in eine angemessene Beziehung gesetzt werden (Oberlandesgericht (OLG) Hamm, Urteil vom 13.05.2003 – 9 U 13/03 –).
Im Rahmen der Genugtuungsfunktion ist insbesondere die Schwere des Verschuldens des Schädigers in Ansatz zu bringen.

Darauf hat der 12. Zivilsenat des Brandenburgisches Oberlandesgerichts (OLG) mit Urteil vom 30.04.2015 – 12 U 165/13 – hingewiesen.

 

Wenn ein Patient nach einer Operation behauptet, dass eine Indikation für die Operation nicht vorgelegen habe.

Grundsätzlich liegt ein Behandlungsfehler dann vor, wenn eine vom Arzt gewählte Therapie bereits nicht indiziert ist.
Im Übrigen ist es im Regelfall Sache des Arztes, die Behandlungsmethode auszuwählen.
Bei mehreren medizinisch

  • gleichermaßen indizierten und üblichen Behandlungsmethoden, die unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen haben,
  • also beim Bestehen einer echten Wahlmöglichkeit für den Patienten,

muss es allerdings dem Patienten nach entsprechender vollständiger ärztlicher Belehrung überlassen bleiben, zu bestimmen,

  • auf welchem Weg die Behandlung erfolgen soll und
  • auf welches Risiko er sich einlassen will,

anderenfalls ist insoweit ein Aufklärungsfehler anzunehmen,

  • für den der Arzt ebenso wie für einen Behandlungsfehler haftet. 

War aber beispielsweise eine Operation indiziert, weil

  • weitere konservative Möglichkeiten
  • einem operativen Eingriff nicht gleichwertig waren,

ist dem Arzt dagegen eine fehlerhafte Aufklärung unter diesem Gesichtspunkt nicht vorzuwerfen.
Vielmehr käme ein Aufklärungsfehler in einem solchen Fall nur dann in Betracht, wenn verschiedene

  • gleichermaßen indizierte und übliche Behandlungsmethoden
  • mit unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bestanden hätten.

Ist ein Patient über einen medizinischen Eingriff nicht ordnungsgemäß aufgeklärt worden,

  • ist die Einwilligung des Patienten in die Behandlung nicht wirksam;
  • zugleich stellt der Eingriff eine Verletzung des Behandlungsvertrages und eine rechtswidrige Körperverletzung dar.

Der Patient ist vor Durchführung eines Eingriffs über die mit diesem verbundenen Risiken aufzuklären, um unter Wahrung seiner Entscheidungsfreiheit wirksam in den Eingriff einwilligen zu können.

  • Die Aufklärung hat den Patienten einen zutreffenden allgemeinen Eindruck von der Schwere des Eingriffs und der Art der Belastung zu vermitteln, die sich für seine körperliche Integrität und seine Lebensführung aus dem Eingriff ergeben können.

Im Rahmen der Aufklärung ist auch das Risiko zu erörtern,

Nicht erforderlich ist die exakte medizinische Beschreibung der in Betracht kommenden Risiken, es genügt eine Aufklärung „im Großen und Ganzen“ über Chancen und Risiken der Behandlung (BGH, Urteil vom 14.03.2006 – VI ZR 279/04 –).

Für die ärztliche Hinweispflicht auf ein bestimmtes Risiko ist dabei

  • nicht der statistische Grad der Risikodichte entscheidend;
  • maßgebend ist vielmehr, ob das Risiko sich im Fall der Verwirklichung für die Lebensführung des Patienten als schwer belastend darstellt und trotz seiner Seltenheit für den Eingriff spezifisch und für den Laien überraschend ist (BGH, Urteile vom 15.02.2000 – VI ZR 48/99 – und vom 10.10.2006 – VI ZR 74/05 –).

Darlegungs- und beweispflichtig für eine richtige und vollständige Aufklärung ist der behandelnde Arzt.
Dabei sind an den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung des Patienten keine unbilligen und übertriebenen Anforderungen zu stellen, zumal das vertrauensvolle Gespräch zur Aufklärung zwischen Arzt und Patienten möglichst von bürokratischem Formalismus frei bleiben soll; ist daher ein Beweis für die ständige Praxis einer gewissenhaften Aufklärung erbracht, sollte dem Arzt im Zweifelsfall geglaubt werden, dass die Aufklärung auch im Einzelfall in der gebotenen Weise geschehen ist.

Beruft sich ein Arzt, der seine Aufklärungspflicht verletzt hat, darauf, dass der Eingriff aufgrund einer hypothetischen Einwilligung des Patienten gerechtfertigt gewesen wäre,

  • hat der Patient glaubhaft zu machen,

dass er sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte,

An die Darlegungspflicht des Patienten sind dabei keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, es genügt, wenn er einsichtig macht, dass ihn die ordnungsgemäße Aufklärung über das Für und Wider des ärztlichen Eingriffs ernsthaft vor die Frage gestellt hätte, ob er diesem zustimmen sollte.
Maßgeblich ist dabei,

  • in welcher persönlichen Entscheidungssituation der Patient bei ordnungsgemäßer und vollständiger Aufklärung gestanden hätte und
  • ob ihn die Aufklärung ernsthaft vor die Frage gestellt hätte,

ob er seine Einwilligung erteilen solle oder nicht (Oberlandesgericht (OLG) Oldenburg, Urteil vom 30.03.2005 – 5 U 66/03 –).
Dabei sind bei einem nicht zwingend erforderlichen Eingriff besonders strenge Anforderungen zu stellen.
Keinesfalls darf der Tatrichter seine eigene Beurteilung des Konflikts an die Stelle derjenigen des Patienten setzen (BGH, Urteil vom 01.02.2005 – VI ZR 174/03 –).
Kann der Patient

  • schließlich seinen Entscheidungskonflikt plausibel machen,

ist es Sache des Arztes, zu beweisen,

  • dass gleichwohl eine Einwilligung zu der vorgenommenen Behandlung erteilt worden wäre.

Darauf hat der 12. Zivilsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts (OLG) mit Urteil vom 30.04.2015 – 12 U 165/13 – hingewiesen.