Strafrecht – Strafrechtliche Verantwortung des Arztes bei Suizid eines Patienten in einer psychiatrischen Klinik?

Strafrecht – Strafrechtliche Verantwortung des Arztes bei Suizid eines Patienten in einer psychiatrischen Klinik?

Mit Beschluss vom 28.06.2012 – 7 Qs 63/12 – hat das Landgericht (LG) Gießen entschieden, dass ein Arzt einer psychiatrischen Klinik, der nichts zur Verhinderung eines freiverantwortlich begangenen Selbstmordes unternimmt, sich auch dann nicht wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen nach §§ 222, 13 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB ) strafbar macht, wenn der betreffende Patient wegen Suizidgefahr überwiesen wurde.

In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte sich ein Patient mit seinem Gürtel in einer psychiatrischen Klinik in seinem Zimmer erhängt, nachdem er zuvor, gegenüber dem zuständigen Arzt erklärt hatte, er wolle sich nicht umbringen, befürchte aber, er werde es tun, deswegen, auf seine Bitte hin, stationär aufgenommen, von dem Arzt aber nicht als suizidgefährdet eingestuft worden war und der Arzt auch weder die Gabe sedierender Medikamente, noch die Wegnahme von Gegenständen des Patienten angeordnet hatte, die, wie etwa ein Gürtel, für einen Suizid geeignet waren.
In seinem Beschluss, mit dem es die Zulassung der Anklage der Staatsanwaltschaft und die Eröffnung des Hauptverfahrens, mangels hinreichenden Tatverdachts (§ 203 Strafprozessordnung (StPO )), ablehnte, hat das LG ausgeführt:

Strafbar nach den §§ 211ff. Strafgesetzbuch (StGB ) ist die Tötung eines anderen Menschen.
Die Selbsttötung unterfällt demgegenüber nicht dem Tatbestand eines Tötungsdelikts. Die Mitverursachung eines Selbstmordes ist damit grundsätzlich ebenso straffrei wie die fahrlässige Ermöglichung der eigenverantwortlichen Selbsttötung. So kann derjenige, der mit Gehilfenvorsatz den Tod eines Selbstmörders mit verursacht, nicht bestraft werden. Schon dies verbietet es aus Gründen der Gerechtigkeit, denjenigen zu bestrafen, der nur fahrlässig eine Ursache für den Tod eines Selbstmörders setzt. Er ist sich – bei bewusster Fahrlässigkeit – wie der Gehilfe der möglichen Todesfolge bewusst, nimmt sie aber anders als jener nicht billigend in Kauf. Bei unbewusster Fahrlässigkeit fehlt sogar schon das Bewusstsein der möglichen Todesfolge. Es geht nicht an, das mit einer solchen inneren Einstellung verübte Unrecht strafrechtlich strenger zu bewerten als die Tat desjenigen, der mit Gehilfenvorsatz dasselbe Unrecht bewirkt, nämlich den Tod eines Selbstmörders mit verursacht. Aus der Straflosigkeit von Anstiftung und Beihilfe zur Selbsttötung folgt zwingend, dass der Garant, der nichts zur Verhinderung des freiverantwortlichen Suizids unternimmt, ebenfalls straffrei bleiben muss.
Hätte der angeschuldigte Arzt durch aktives Tun Beihilfe zum eigenverantwortlichen Suizid des Patienten geleistet, indem sie ihm etwa in Kenntnis seiner Suizidabsicht den Gürtel gereicht hätte, käme eine Strafbarkeit wegen Beihilfe aufgrund der Straflosigkeit des Suizids von vornherein nicht in Betracht. Ausgehend hiervon würde es unter Berücksichtigung der oben genannten Grundsätze einen unerträglichen Wertungswiderspruch darstellen, wollte man dem Arzt das bloße Untätigbleiben im Hinblick auf die Verabreichung sedierender Medikamente und der Wegnahme des Gürtels strafrechtlich zum Vorwurf machen.
Dem steht auch nicht entgegen, dass sich aus dem vorliegenden ärztlichen Behandlungsvertrag besondere Sorgfaltspflichten der Arztes ergaben. Die besondere Garantenstellung des Arztes gebietet es u.a., den Patienten im Rahmen der von ihm gewählten Therapie keinen vermeidbaren Risiken auszusetzen, wie sie etwa mit der erstmaligen Anwendung einer neuartigen Entziehungstherapie verbunden sind (Bundesgerichtshof (BGH) Urteil vom 18. 07.1978 – 1 StR 209/78). Da der Arzt im vorliegenden Fall aber weder therapeutische Maßnahmen ergriffen, noch aktiv vermeidbare Risiken für den Patienten geschaffen hat, ist die dem Urteil vom 18. 07. 1978 zu Grunde liegende Sachverhaltskonstellation, die überdies keine eigenverantwortliche Selbsttötung zum Gegenstand hat, auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des BGH vom 04.07.1984 – 3 StR 96/84 –, wonach das Eingreifen des anwesenden Garanten geboten ist, wenn der Lebensmüde nach Beendigung seines Selbsttötungsversuchs das Bewusstsein verloren hat. Auf die Frage, ob es ab dem Zeitpunkt der Bewusstlosigkeit zu einem strafbegründenden Tatherrschaftswechsel kommt, weil der Garant damit zum Herrn über Leben oder Tod avanciert, kommt es im vorliegenden Fall nicht an. Der Arzt war bei dem Suizid des Patienten nicht anwesend und konnte so zu keinem Zeitpunkt Tatherrschaft über das Geschehen erlangen.
Eine straflose Beteiligung am Suizid kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn die Willensbildung des Suizidenten einwandfrei ist und der Selbsttötungswille fortbesteht.
Jedoch steht einem Freispruch des Arztes bei den gegebenen Beweismöglichkeiten nach Aktenlage gemäß dem Grundsatz in dubio pro reo wahrscheinlich auch insoweit nichts entgegen. Zwar kann nach den Erkenntnissen der Suizidforschung von einem eigenverantwortlichen Handeln des Lebensmüden nur in Ausnahmefällen ausgegangen werden. Zweifel an der Eigenverantwortlichkeit können jedoch keine Strafbarkeit begründen, sondern wirken, wie stets, zugunsten des Angeklagten und nachdem sich zwar auf Grund des vorliegenden Gutachtens des Sachverständigen, wegen einer bei dem Patienten zur Tatzeit vorliegenden schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen Zweifel an einem eigenverantwortlichen Handeln ergeben, der Patient sich aber nach den Feststellungen des Sachverständigen im Grenzbereich von eigenverantwortlicher Willensbildung und ausgeschlossener Eigenverantwortlichkeit befunden hat, müssen die unüberwindbar bestehenden Zweifel an der Eigenverantwortlichkeit seines Handelns sich notwendig zu Gunsten des angeschuldigten Arztes auswirken.

 

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