Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB – wegen Mitteilung belastender, psychischer Störungen auslösender Informationen? – wegen Verletzung des „Rechts auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung“?

Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB – wegen Mitteilung belastender, psychischer Störungen auslösender Informationen? – wegen Verletzung des „Rechts auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung“?

§ 823 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) bezweckt nicht den Schutz eines sorgeberechtigen Elternteils vor den psychischen Belastungen, die damit verbunden sind, dass er von einer genetisch bedingten Erkrankung des anderen Elternteils und dem damit einhergehenden Risiko Kenntnis erlangt, dass die gemeinsamen Kinder auch Träger der Krankheit sein könnten.
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst ein „Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung“, das den Einzelnen davor schützt, Kenntnis über ihn betreffende genetische Informationen mit Aussagekraft für seine persönliche Zukunft zu erlangen, ohne dies zu wollen.

Darauf hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) mit Urteil vom 20.05.2014 – VI ZR 381/13 – hingewiesen.

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall beanspruchte die Klägerin von dem beklagten Oberarzt einer Fachabteilung für Psychiatrie und Psychotherapie Ersatz materiellen und immateriellen Schadens wegen der Information über eine bei ihrem geschiedenen Ehemann festgestellte Erbkrankheit.
Der von der Schweigepflicht gegenüber der Klägerin entbundene beklagte Arzt ihres geschiedenen Ehemanns hatte auf dessen Wunsch die Klägerin über dessen Erkrankung an Chorea Huntington informiert und sie darauf hingewiesen, dass die – zu diesem Zeitpunkt 12 und 16 Jahre alten – gemeinsamen Kinder die genetische Anlage der Erkrankung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% geerbt hätten. Diese Mitteilung hatte bei der Klägerin eine reaktive Depression zur Folge wegen der sie seit Anfang 2011 krankgeschrieben ist.
Mit der Klage begehrte die Klägerin Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 15.000 € sowie die Feststellung der Ersatzverpflichtung des Beklagten hinsichtlich der ihr entstandenen materiellen und immateriellen Schäden.

Nach der Entscheidung des VI. Zivilsenats des BGH stehen der Klägerin gegen den Beklagten keine Ansprüche auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens wegen der Mitteilung zu, dass ihr geschiedener Ehemann an Chorea Huntington erkrankt sei und ihre Kinder die genetische Anlage der Erkrankung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% geerbt hätten.

Durch die Mitteilung belastender Informationen ausgelöste psychische Störungen von Krankheitswert können zwar eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 22.05.2007 – VI ZR 17/06 –).
Vorliegend fehlt es allerdings an dem für eine Haftung erforderlichen Zurechnungszusammenhang zwischen der Mitteilung des Beklagten und der von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsverletzung.
In der Rechtsprechung des BGH ist es anerkannt, dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der Norm begrenzt wird.
Dies gilt unabhängig davon, auf welche Bestimmung die Haftung gestützt wird.
Eine Schadensersatzpflicht besteht nur, wenn die Tatfolgen, für die Ersatz 
begehrt wird, aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen oder die verletzte vertragliche oder vorvertragliche Pflicht übernommen worden ist (vgl. BGH, Urteile vom 22.05.2012 – VI ZR 157/11 –; vom 11.06.2010 – V ZR 85/09 –; vom 14.03.2006 – X ZR 46/04 –; vom 11.01.2005 – X ZR 163/02 –).

  • Die Schadensersatzpflicht hängt zum einen davon ab, ob die verletzte Bestimmung überhaupt den Schutz Einzelner bezweckt und der Verletzte gegebenenfalls zu dem geschützten Personenkreis gehört.
  • Zum anderen muss geprüft werden, ob die Bestimmung das verletzte Rechtsgut schützen soll.
  • Darüber hinaus muss die Norm den Schutz des Rechtsguts gerade gegen die vorliegende Schädigungsart bezwecken; die geltend gemachte Rechtsgutsverletzung bzw. der geltend gemachte Schaden müssen also auch nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm fallen (BGH, Urteil vom 14.03.2006 – X ZR 46/04 –).

An letzterem fehlt es in der Regel, wenn sich eine Gefahr realisiert hat, die dem allgemeinen Lebensrisiko und damit dem Risikobereich des Geschädigten zuzurechnen ist.
Der Schädiger kann nicht für solche Verletzungen oder Schäden haftbar gemacht werden, die der Betroffene in seinem Leben auch sonst üblicherweise zu gewärtigen hat (vgl. BGH, Urteil vom 22.05.2007 – VI ZR 17/06 –). Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Erkrankung der Klägerin dem Beklagten haftungsrechtlich nicht zuzurechnen.
Dass eine schwerwiegende – möglicherweise auch für die Gesundheit der gemeinsamen Kinder relevante – Krankheit eines Elternteils erkannt und dem anderen Elternteil bekannt wird, ist ein Schicksal, das Eltern jederzeit widerfahren kann. Es gehört zu den allgemeinen Lebensrisiken, fällt aber nicht in den Bereich der Gefahren, vor denen § 823 Abs. 1 BGB schützen will. Die Bestimmung bezweckt nicht den Schutz eines sorgeberechtigen Elternteils vor den psychischen Belastungen, die damit verbunden sind, dass er von einer genetisch bedingten Erkrankung des anderen Elternteils und dem damit einhergehenden Risiko Kenntnis erlangt, dass die gemeinsamen Kinder auch Träger der Krankheit sein könnten. Derartige Belastungen haben die Personensorgeberechtigten vielmehr grundsätzlich hinzunehmen, ohne den Überbringer der Nachricht dafür verantwortlich machen zu können.

Auch ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Ausprägung eines „Rechts auf Nichtwissen“ steht der Klägerin nicht zu.
Zwar schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Interesse des Einzelnen, nicht mehr über seine genetischen Eigenschaften wissen zu müssen, als er selbst will.
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergänzt als „unbenanntes“ Freiheitsrecht die speziellen Freiheitsrechte, die, wie etwa die Gewissens- oder die Meinungsfreiheit, ebenfalls konstituierende Elemente der Persönlichkeit schützen. Seine Aufgabe ist es, im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen Freiheitsgarantien nicht vollständig erfassen lassen; diese Notwendigkeit besteht namentlich auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen für den Schutz der menschlichen Persönlichkeit.
Die genetische Konstitution prägt die Persönlichkeit des Einzelnen und bestimmt wesentliche Rahmenbedingungen seiner Existenz. Die Kenntnis von Erbanlagen, insbesondere genetisch bedingten Krankheitsanlagen, kann maßgeblichen Einfluss auf die Lebensplanung und Lebensführung einer Person haben und berührt deshalb unmittelbar ihr in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistetes Selbstbestimmungsrecht.
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst deshalb ein „Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung“, das den Einzelnen davor schützt, Kenntnis über ihn betreffende genetische Informationen mit Aussagekraft für seine persönliche Zukunft zu erlangen, ohne dies zu wollen (vgl. §§ 1, 9 Abs. 2 Nr. 5 Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnosegesetz – GenDG)).
Es kann dahinstehen, ob das „Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung“ bereits dadurch beeinträchtigt wird, dass einer Person der Hinweis gegeben wird, sie sei möglicherweise Trägerin einer Erbkrankheit.
Dies könnte deshalb zweifelhaft sein, weil eine freie Entscheidung, bestimmte Informationen nicht erhalten zu wollen, voraussetzt, dass der Betroffene weiß, dass es Informationen gibt, die er zur Kenntnis nehmen könnte. Auf diese Frage kommt es indes nicht an.
Denn die Klägerin ist in ihrem „Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung“ nicht betroffen.
Sie stützt die geltend gemachten Schadensersatzansprüche nicht auf eine Mitteilung ihrer eigenen genetischen Konstitution, sondern darauf dass der Beklagte sie über eine bei ihrem geschiedenen Mann bestehende Erkrankung informiert hat, deren genetische Anlage ihre Kinder möglicherweise geerbt haben.
Aus einer etwaigen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ihrer Kinder kann die Klägerin aber keine Schadensersatzansprüche ableiten.

Schadensersatzansprüche der Klägerin aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem GenDG scheiden ebenfalls aus. Das Gesetz enthält keine Bestimmung, wonach das Ergebnis einer diagnostischen genetischen Untersuchung trotz ausdrücklicher schriftlicher Einwilligung des von der Untersuchung Betroffenen solchen Personen nicht bekanntgegeben werden dürfte, die – wie die Klägerin – mit dem Betroffenen genetisch nicht verwandt sind. 

 


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