Der Benutzer einer bevorrechtigten Straße – Wie lange ist er gegenüber Verkehrsteilnehmern, die auf einer einmündenden oder die Vorfahrtsstraße kreuzenden nicht bevorrechtigten Straße herankommen, vorfahrtsberechtigt?

Der Benutzer einer bevorrechtigten Straße – Wie lange ist er gegenüber Verkehrsteilnehmern, die auf einer einmündenden oder die Vorfahrtsstraße kreuzenden nicht bevorrechtigten Straße herankommen, vorfahrtsberechtigt?

Der Benutzer einer bevorrechtigten Straße ist gegenüber Verkehrsteilnehmern, die auf einer einmündenden oder die Vorfahrtsstraße kreuzenden nicht bevorrechtigten Straße herankommen, so lange vorfahrtsberechtigt, bis er die Vorfahrtsstraße mit der ganzen Länge seines Fahrzeugs verlassen hat.

Das hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) mit Urteil vom 27.05.2014 – VI ZR 279/13 – entschieden.

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall stritten die Parteien um Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall am 25. August 2009 zwischen einem Bus und einem Pkw.
Die Klägerin ist Halterin und Eigentümerin des Busses, der vom Drittwiderbeklagten gefahren wurde. Der Beklagte zu 1 ist Fahrer und Halter des bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw.
Zum Unfallzeitpunkt befuhr der Drittwiderbeklagte mit dem Bus die vorfahrtsberechtigte T.-Straße.
Der Beklagte zu1 befuhr die untergeordnete S.-Straße und wollte an der Einmündung zur T.-Straße in diese nach links abbiegen (Zeichen 205 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO)).
Aus Sicht des Drittwiderbeklagten befindet sich unmittelbar nach der S.-Straße parallel zur vorfahrtsberechtigten T.-Straße eine Bushaltestelle. Um diese anzufahren, überfuhr der Drittwiderbeklagte mit dem Bus etwas die seinen Fahrstreifen begrenzende unterbrochene Linie zur S.-Straße. Dabei kam es zur Kollision mit dem an die Vorfahrtsstraße heranfahrenden Pkw des Beklagten zu 1.

Bei dieser Sachlage hat das Berufungsgericht auf Grund einer Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) eine volle Haftung der Beklagten angenommen und eine (Mit-)Haftung der Klägerin verneint, wobei es maßgeblich auf die vorliegende schuldhafte Vorfahrtsverletzung des Beklagten zu 1 abgestellt und die einfache Betriebsgefahr des Busses hat zurücktreten lassen.

Das ist vom BGH nicht beanstandet worden.

Danach war der Bus hier vorfahrtsberechtigt, auch wenn er die als Fahrbahnbegrenzung dienende unterbrochene Linie überfuhr, um die Haltestelle zu erreichen.

Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO hat an Kreuzungen und einer Einmündung Vorfahrt, wer von rechts kommt. Das gilt nicht, wenn die Vorfahrt – wie hier durch das Zeichen 205 – besonders geregelt ist (§ 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVO).
Wer die Vorfahrt zu beachten hat, muss rechtzeitig durch sein Fahrverhalten, insbesondere durch mäßige Geschwindigkeit, erkennen lassen, dass er warten wird. Er darf nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert (§ 8 Abs. 2 Satz 1, 2 StVO).
Die gesetzliche Vorfahrtsregelung soll den zügigen Verkehr auf bevorrechtigten Straßen gewährleisten und damit durch klare und sichere Verkehrsregeln auch der Sicherheit des Straßenverkehrs dienen.

  • Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich auf die gesamte Fläche der Kreuzung oder des Einmündungsbereichs.
  • Der Vorfahrtsbereich wird bei rechtwinklig einmündenden Straßen und bei rechtwinkligen Straßenkreuzungen von den Fluchtlinien der Fahrbahnen beider Straßen gebildet.
  • Bei einer trichterförmig erweiterten Einmündung erstreckt sich die Vorfahrt nicht nur auf das durch die Fluchtlinie der Fahrbahnen beider Seiten gebildete Einmündungsviereck, sondern umfasst auch die ganze bis zu den Endpunkten des Trichters erweiterte bevorrechtigte Fahrbahn.
  • Danach hat der Fahrer, der dem Verlauf einer nach links abknickenden Vorfahrtsstraße nicht folgt, sondern geradeaus weiterfährt, in dem gesamten Kreuzungsbereich die Vorfahrt gegenüber dem von rechts kommenden Verkehr. Eine Markierung des Verlaufs des bevorrechtigten Straßenzugs auf der Kreuzung durch eine rechtsseitig verlaufende bogenförmige unterbrochene weiße Linie ändert nichts am Umfang der Vorfahrtsberechtigung. Vielmehr beschränkt sich die Bedeutung der Markierung darauf, den Verkehrsteilnehmern zur Erleichterung der Orientierung den Verlauf des bevorrechtigten Straßenzuges anzuzeigen.
  • Der Benutzer einer bevorrechtigten Straße ist gegenüber den Verkehrsteilnehmern, die auf einer einmündenden oder die Vorfahrtsstraße kreuzenden nicht bevorrechtigten Straße herankommen, auch dann vorfahrtsberechtigt, wenn er in diese Straße einbiegt, und zwar so lange, bis er die Vorfahrtsstraße mit der ganzen Länge seines Fahrzeugs verlassen hat.

Nach diesen Grundsätzen ist im Streitfall die Kollision zu einem Zeitpunkt erfolgt, als der drittwiderbeklagte Busfahrer vorfahrtsberechtigt und der Beklagte zu 1 wartepflichtig war.

Der Bus näherte sich unstreitig auf der vorfahrtsberechtigten Straße und war im Begriff, diese zu verlassen, um die kurz hinter der Einmündung der nachgeordneten Straße befindliche Bushaltestelle anzufahren. Er hatte die Vorfahrtsstraße zum Zeitpunkt der Kollision noch nicht mit der ganzen Länge verlassen, vielmehr befand sich der überwiegende Teil des Busses noch auf dieser. Demgemäß musste der Beklagte zu 1 bei der Annäherung an die Einmündung die Vorfahrt des Busfahrers beachten und durfte diesen weder gefährden noch wesentlich behindern (§ 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 StVO).

Eine Ersatzpflicht des Drittwiderbeklagten sei mangels Verschuldens ausgeschlossen (§ 18 Abs. 1 Satz 2 StVG, § 823 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)).
Dieser musste, um im normalen Fahrverlauf ohne besonders starke Brems- oder Lenkbewegungen die Haltestelle zu erreichen, die unterbrochene Linie überfahren. Er fuhr mit geringer Geschwindigkeit. Auch wenn davon auszugehen ist, dass er das Fahrzeug des Beklagten zu 1 wahrgenommen hat, durfte er grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Beklagte zu 1 rechtzeitig anhalten würde.
Dieser hatte selbst vorgetragen, dass er im Begriff war anzuhalten, und fuhr gemäß dem Sachverständigengutachten mit nur noch sehr geringer Geschwindigkeit. Es lagen mithin keine Umstände vor, aufgrund derer der Drittwiderbeklagte hätte erkennen können und müssen, dass der Beklagte zu 1 sein Vorfahrtsrecht missachten würde.
Andererseits war für den Beklagten zu 1 zu erkennen, dass sich der Bus näherte und möglicherweise die Bushaltestelle anfahren würde. Dies war für ihn bei der erforderlichen Aufmerksamkeit erkennbar, weil – wie bei trichterförmigen Einmündungen üblich – die Vorfahrtsstraße für den Beklagten zu 1 in beide Richtungen deutlich einsehbar war.

Der BGH hat auch nicht beanstandet, dass das Berufungsgericht bei der Abwägung nur von einer einfachen Betriebsgefahr des Busses ausgegangen ist.
Zwar können – im Hinblick auf die Wucht des Zusammenstoßes und die Schwere der Unfallfolgen – für die Betriebsgefahr auch Fahrzeuggröße, Fahrzeugart oder Gewicht des Fahrzeugs maßgebend sein mit der Folge, dass die Betriebsgefahr der größeren Masse in der Regel größer ist.
Ein Umstand muss aber erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sein, sonst bleibt er außer Ansatz (vgl. BGH, Urteil vom 21.11.2006 – VI ZR 115/05 –).
Zwar hat der Bus eine erheblich größere Masse als der vom Beklagten zu 1 gefahrene Pkw. Dies hat sich aber im Streitfall nicht ausgewirkt. Der Bus ist zum Zeitpunkt der Kollision nur mit einer geringen Geschwindigkeit gefahren. Nicht er, sondern der Beklagte zu 1 ist in ihn hineingefahren. Dabei hat sich die Masse des Busses, welche grundsätzlich zu einem längeren Bremsweg führt, nicht ausgewirkt. 

 


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