Entziehung der elterlichen Sorge setzt eingehende Feststellungen zur Kindeswohlgefährdung voraus.

Entziehung der elterlichen Sorge setzt eingehende Feststellungen zur Kindeswohlgefährdung voraus.

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts, ohne die die Elternverantwortung nicht ausgeübt werden kann. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen.
Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt es nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht.
Dabei berechtigen nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen. Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre.

Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass

  • bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder
  • sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt

(vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22.05.2014 – 1 BvR 2882/13 –; vom 07.04.2014 – 1 BvR 3121/13 –; vom 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 –; Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss vom 15.12.2004 – XII ZB 166/03 –).

Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen.
Die primäre Erziehungszuständigkeit beruht auf der Erwägung, dass die Interessen des Kindes in aller Regel am besten von seinen Eltern wahrgenommen werden und die spezifisch elterliche Zuwendung dem Wohl der Kinder grundsätzlich am besten dient. Daher müssen die Eltern ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“; vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht.
Außerdem folgt aus der primären Erziehungszuständigkeit der Eltern in der Sache, dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung grundsätzlich nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf.
Daher kann es keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem bestimmten, von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt.

Für die Gerichte ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und 3 GG das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten.
Dem werden die Gerichte regelmäßig dann nicht gerecht, wenn sie ihren Blick nur auf die Verhaltensweisen der Eltern lenken, ohne die sich daraus ergebenden schwerwiegenden Konsequenzen für die Kinder darzulegen (vgl. nur BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22.05.2014 – 1 BvR 3190/13 –; vom 07.04.2014 – 1 BvR 3121/13 –; vom 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 –).

Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG erlaubt dem Staat nicht, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen oder seine Vorstellungen von einer geeigneten Kindererziehung an die Stelle der elterlichen Vorstellungen zu setzen.
Die Eltern und deren sozio-ökonomische Verhältnisse gehören grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 –).
Zwar bedarf es danach etwa bei einer unzureichenden Grundversorgung der Kinder keiner ausführlichen Darlegung, dass Kinder derartige Lebensbedingungen nicht ertragen müssen.
Stützen Gerichte eine Trennung des Kindes von den Eltern jedoch auf Erziehungsdefizite und ungünstige Entwicklungsbedingungen, müssen sie besonders sorgfältig prüfen und begründen, weshalb die daraus resultierenden Risiken für die geistige und seelische Entwicklung des Kindes die Grenze des Hinnehmbaren überschreiten.

Wollen Gerichte ihre Annahme einer Kindeswohlgefahr auf ernsthaft gesundheitsgefährdendes Verhalten stützen, müssten sie dies konkret benennen. Vage Andeutungen, die wie hier eine Gefährdungssituation assoziativ in den Raum stellen, ohne den konkreten Sachverhalt zu beschreiben und auf sein tatsächliches Gefährdungspotenzial hin zu analysieren, genügen demgegenüber nicht.

Darauf hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) mit Beschluss vom 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14 – hingewiesen.

 


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